Kassandra/Prometheus. Recht auf Welt
von Kevin Rittbergervon Kevin Rittberger
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Kassandra, die Königstochter, deren Warnungen, den Untergang Trojas aufzuhalten, ungehört blieben, und Prometheus, der Gott, der den Menschen das Feuer brachte und damit Zeus’ Strafe auf sich zog, sind in Rittbergers Doppelstück die Sehenden in der aktuellen Flüchtlingstragödie. In «Kassandra» erleben wir die humanitäre Katastrophe aus menschlicher Perspektive, in «Prometheus» geht die menschliche Ordnung in eine göttliche über – und in Poesie, als dramatisches Gedicht in der literarischen Tradition von Peter Handke und Heiner Müller. Als «Kassandra oder Die Welt als Ende der Vorstellung» 2010 am Schauspielhaus Wien uraufgeführt wurde, erzählte das Stück von einer Tragödie, die gerade erst dabei war, sich ins europäische Bewusstsein zu schieben. Inzwischen sind die Nachrichten von den Ertrinkenden im Mittelmeer ein tägliches Thema, die Geflüchteten Teil des deutschen Alltags – und trotzdem ist keine Lösung dieser humanitären Krise in Sicht. Rittberger hat sein Stück ein knappes Jahrzehnt später überarbeitet, aktualisiert und um einen zweiten Teil ergänzt.
«Kassandra oder Die Welt als Ende der Vorstellung» zeichnet die tragische Irrfahrt der jungen Nigerianerin Blessing in Form eines Lehrstücks mit Elementen des dokumentarischen Theaters nach. Ihr Tagebuch endet dort, wo die europäischen Berichterstatter*innen sich fragen, wie derartige Leidensgeschichten erzählt werden können – und welchem Zweck die Erzählung überhaupt dient. Boubacar, Blessings Mann, überlebt die Flucht, und über sein Schicksal entscheiden nun stellvertretend ein Psychiater, ein Polizist und eine Übersetzerin.
«Wir sehen Verderben in den Fluten Dein Jammern übertönen Wie lange gedenkst du noch Deinen Stolz zur Schau zu stellen»
«Prometheus. Wir Anfänge» wagt einen Blick über das Schicksal geflüchteter Menschen hinaus und übernimmt die dramatische Struktur von Aischylos’ antikem Text. Rittberger nutzt die mythische Vorlage, um die Fortschrittsgläubigkeit des Feuerbringers und Zivilisationsstifters im 21. Jahrhundert erneut auf den Prüfstand zu stellen: angesichts der unzähligen Leidensgeschichten von Geflüchteten, angesichts der näher rückenden Klimakatastrophe, angesichts der drohenden Verselbstständigung von Überwachungstechnologien sowie künstlicher Intelligenz. Es ist Io, ihrerseits vor Zeus’ göttlichem Zorn auf der Flucht, die den Mythos des männlich-weißen Heilsbringers schließlich herausfordert und den zweifelnden Prometheus dazu bringt, eine artenübergreifende Utopie zu formulieren und den Planeten nicht der Zerstörung zu überlassen.
«Alles rückt in die Ferne, es geht um das Wesentliche: Welche Luft die da unten noch atmen wollen, welche Kriege sie nicht mehr führen, wie sie ihren globalen Garten gemeinsam bestellen. Den Kassandrarufen der Gegenwart zu widerstehen, bedeutet, die Energie aufzubringen, den Menschen noch nicht abzuschreiben und dieser Spezies eine Achtsamkeit für das Große und Ganze zuzutrauen.» Kevin Rittberger
Peter Kastenmüller, dem Münchner Publikum durch seine «Bunnyhill»-Projekte bekannt und von 2013 bis 2019 Intendant des Theater Neumarkt in Zürich, kehrt in seine Heimatstadt zurück und bringt das Stück zur Uraufführung.
Zum Autor Kevin Rittberger
Kevin Rittberger, geboren 1977 in Stuttgart, studierte Neuere deutsche Literatur sowie Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Nach Engagements als Regieassistent am Staatstheater Stuttgart und am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg entwickelte er ab 2004 eigene Arbeiten an Stadttheatern und in der freien Szene, u. a. am Schauspielhaus Wien, am Deutschen Theater Berlin, am Schauspiel Frankfurt und am Düsseldorfer Schauspielhaus. Neben Inszenierungen eigener Texte setzte er sich in zahlreichen Arbeiten mit dem Werk Alexander Kluges auseinander, u. a. in «Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd» 2011 am Residenztheater. Außerdem wirkte er als Kurator interdisziplinärer Veranstaltungen am Deutschen Schauspielhaus, am Düsseldorfer Schauspielhaus, am Theater Basel und am Maxim Gorki Theater Berlin und ist Autor und Herausgeber der Bücher «Arglosigkeit» (2016) und «Organisation / Organisierung» (2018). Seit 2011 schreibt er Auftragswerke für zahlreiche Bühnen, u. a. «Puppen» (Schauspielhaus Wien, 2011), «Kimberlit» (Schauspiel Frankfurt, 2013), «Peak White oder Wirr sinkt das Volk» (2016, Theater Heidelberg) und «IKI. radikalmensch» (Theater Osnabrück, 2019). «Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung» entstand 2011 als Auftragswerk des Schauspielhaus Wien. Die neu überarbeitete Version und «Prometheus. Wir Anfänge» schrieb er im Auftrag des Residenztheaters.