WAS WÜRDE SICH DARUNTER VERBERGEN, WENN DAS GESICHT EINES TAGES AUSEINANDERFIELE?
Tove Ditlevsens Roman «Gesichter» aus dem Jahr 1968 ist eng mit den Bänden «Kindheit», «Jugend» und «Abhängigkeit» ihrer autofiktionalen «Kopenhagen-Trilogie» verbunden, die am 14.März 2024 am Residenztheater in der Regie von Elsa-Sophie Jach Premiere hatte. Mit der Lesung von «Gesichter» führt die Regisseurin ihre Beschäftigung mit Tove Ditlevsens Werk fort:
«‹Gesichter› ist ein ebenso poetischer wie beklemmender Text. Viele Motive und Personen aus der ‹Kopenhagen-Trilogie› tauchen auf, jedoch in einem düsteren Zwielicht und unter anderen Namen. Nichts scheint mehr sicher, die Erzählstruktur selbst löst sich auf, mäandert, wird zu einem Trip. Tove Ditlevsen seziert – im Sturmauge ihrer eigenen Halluzinationen stehend – die Frage, was ‹Normalsein› in einer verlogenen Gesellschaft bedeutet und ob es für sie als Künstlerin gefährlicher ist, laut und sichtbar innerhalb oder außerhalb einer Psychiatrie zu sein.» Elsa-Sophie Jach
«Gesichter» schreitet durch Schattenwelten, in denen sich Fragmente von Realität und verzerrter Wahrnehmung überlagern. Der Begriff der Normalität sowie der psychiatrische Behandlungsapparat werden infrage gestellt, und die rhetorische Frage von Ronald D. Laing, einem Mitbegründer der antipsychiatrischen Bewegung, aufgeworfen: «Wer sind die Verrückten, wer die Normalen?» Das Publikum wird dabei schmerzhaft tief in die verzerrte Wahrnehmungswelt der Protagonistin Lise Mundus hineingezogen. Die Realität der Schriftstellerin Lise, bekannt für ihre Gedichte und ihre preisgekrönten Kinderbücher und Mutter von drei Kindern, ist schwer aushaltbar: Ihr Mann Gert hat zahlreiche Affären und seine übermäßige Bevorzugung von Lises Tochter Hanne aus erster Ehe weckt Mutmaßungen über sexuellen Missbrauch. Eine beklemmende Atmosphäre hängt über allem wie eine schwere, düstere Decke, scheinbar hat sich ihr Umfeld gegen Lise verschworen und ihr Vertrauen in andere schwindet zunehmend. Dabei wird sie immer unerreichbarer für Außenstehende, und auch in der Psychiatrie findet sie keinen Weg aus ihrer Psychose. Identitätsstiftende Worte wie «ich» und «wir» werden immer mehr in Frage gestellt:
Aber was war in dieser Welt wirklich und was nicht? War es nicht auch eine Art Krankheit, dass die Leute durch die Gegend spazierten und ihr eigenes Ich festhielten? Dieses ganze Chaos aus Stimmen, Gesichtern und Erinnerungen, die sie nur tröpfchenweise entweichen ließen, ohne sicher sein zu können, sie jemals wiederzubekommen.
In der fiktiven Figur Lise Mundus zeigen sich zahlreiche Parallelen zu Tove Ditlevsen. So ist etwa der Nachname Mundus auch der Mädchenname ihrer Mutter, Alfrida Ditlevsen. Zudem schreibt die Autorin in ihren Erinnerungen aus dem Jahr 1975 selbst, sie hätte in «Gesichter» bewusst ihre eigenen psychotischen Erfahrungen thematisiert, um «Rauchschleier über die vielleicht bitterste Krise in unserer tragischen Ehe zu legen». Jens Andersen schreibt in seiner Biografie über die 1976 an einer Überdosis Schlaftabletten verstorbene Ditlevsen: «Der Roman markiert einen Meilenstein in der dänischen Literaturgeschichte. Keine dänische Autorin und kein dänischer Autor hatte zuvor eine Psychose in Romanform so intensiv und realitätsnah aus der Perspektive einer Patientin geschildert, ohne dass die Sprache und Syntax des Romans sich dabei so zersplittert und disparat zeigt wie der Geist eines psychotischen Menschen.»
In der Lesung «Gesichter» mit Residenztheater-Schauspielerin Sibylle Canonica wird durch den Einsatz von Augmented-Reality-Technologie eine virtuelle Ebene im Marstall eingeblendet. Hierfür wird die 2018 erschienene AR-Brille des US-amerikanischen Unternehmens Magic Leap benutzt. In Echtzeit computergenerierte 3D-Bilder werden in die reale Umgebung eingeblendet und die visuelle Wahrnehmungsebene der Realität durch eine virtuelle Ebene erweitert. Durch animierte Einblendungen wird ein neuer Blickwinkel auf theatrale Formate eröffnet, der Grenzen zwischen Realität und Illusion verschwimmen lässt.
Ilja Mirsky
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