«REDEN KANN MAN AUCH IM FINSTERN.»
Dramaturg Benedikt Ronge über die Arbeit des Theatermachers Kyung-Sung Lee und «77 Versuche, die Welt zu verstehen».
Politische, wirtschaftliche, humanitäre, soziale und ökologische Krisen – begleitet vom Aufstieg des Populismus: Inmitten dieser multiplen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts fällt es zunehmend schwer, Orientierung zu finden. Nach den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schien sich Deutschland in der zweiten Hälfte zunehmend zu stabilisieren – am Ende sogar geeint.
Korea dagegen bleibt auch im 21. Jahrhundert ein geteiltes Land. Im Dezember letzten Jahres geriet die südkoreanische Politik in die interationalen Schlagzeilen: Der mittlerweile des Amtes enthobene Präsident Yoon Suk-yeol verhängte vorübergehend das Kriegsrecht, um nach eigener Aussage nordkoreanische Kräfte bekämpfen zu können – letztlich jedoch wohl auch, um sich (legitimer) Kritik der Opposition zu entledigen. Die Ereignisse erschütterten nicht nur die südkoreanische Demokratie, sondern auch die Theatermacher Kyung-Sung Lee und Hong-Do Lee tief. Kyung-Sung Lee selbst saß in diesen Stunden des 3. Dezember im Flugzeug auf dem Rückweg von seiner Bauprobe am Residenztheater – unsicher, ob er in dasselbe Land zurückkehren würde, das er erst zwei Tage zuvor verlassen hatte.
In dieser Zeit der Unsicherheit nahm Kyung-Sung Lee Bertolt Brechts «Kleines Organon für das Theater» zum Ausgangspunkt seiner Suche nach Worten für das Theater und seiner Stückentwicklung am Residenztheater. Brecht sagte schließlich schon 1947 vor dem Ausschuss für unamerikanische Aktivitäten: «Wir verbringen unser Leben in einer gefährlichen Welt.» Kurz darauf kehrte er aus seinem Exil während des Nationalsozialismus nach Deutschland zurück und baute in der entstehenden DDR sein eigenes Theater auf. Um seine künstlerischen Absichten klarer zu formulieren, riet ihm seine Frau Helene Weigel, seine theatertheoretischen Überlegungen zusammenzufassen. 1948 entstand Bertolt Brechts «Kleines Organon für das Theater» – in Anlehnung an das bereits im 17. Jahrhundert erschienene «Novum organum scientiarum» von Francis Bacon, das als Grundlage der modernen Naturwissenschaften gilt. Bacons Kernaussage, dass der Mensch die Natur nur überwinden könne, indem er ihr gehorcht, nimmt Brecht zum Ausgangspunkt seiner folgerichtig gesellschaftskritischen Überlegungen im «Kleinen Organon». Brecht versuchte, das Theater als Raum gesellschaftlicher Veränderung zu etablieren – das Theater müsse gesellschaftliche Zusammenhänge sichtbar machen, um zu wirken. Auch wenn Brecht sich später über sein theoretisches Organon ärgerte – weil er meinte, es habe Kritiker in ihrer Auffassung bestärkt, sein Theater sei vor allem belehrend statt unterhaltend –, gilt es mit seinen 77 Absätzen heute als sein bedeutendster theatertheoretischer Text und als einer der einflussreichsten des gesamten 20. Jahrhunderts.
Zentral für Bertolt Brecht war es, die Realität ins Theater zu holen, um sie durch das Theater verändern zu können. Kyung-Sung Lee wurde in Südkorea insbesondere durch seine Theaterperformances bekannt, in denen er das Theater bewusst in die Realität geholt hat. Produktionen wie «Let Us Move Your Sofa» oder «25 Hours – To My Era» bespielten und hinterfragten den öffentlichen Raum. Auch seine Bühnenarbeiten, etwa «Before After» über das Fährunglück der Sewol 2014 (eingeladen zum 35. Heidelberger Stückemarkt), oder «Story of an Island» über den so genannten Jeju-Aufstand 1948, sorgten für Aufsehen. Mit seinem Ensemble Creative VaQi hinterfragt er immer wieder die gesellschaftlichen Zustände in Südkorea, so auch in der 2020 realisierten deutsch-südkoreanischen Koproduktion «Borderline» im Marstall. Derzeit ist Lee außerdem Professor für Theaterregie an der Sungkyunkwan University in Seoul; im Anschluss an die Inszenierung in München wird er eine Gastprofessur an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin übernehmen.
Kyung-Sung Lee arbeitet vorwiegend im Stil des «devised theatre» – der Theatertext entsteht im künstlerischen Kollektiv. Er bemüht sich, Schauspieler*innen und künstlerisches Team kennenzulernen und sich sowohl ihren gemeinsamen als auch ihren unterschiedlichen Lebensrealitäten anzunähern. Dabei versteht er Theater als einen Raum, der uns lehrt, dass wir im Leben nicht alles wissen können, und dass das Besondere oft in den kleinen Dingen und Momenten liegt. «77 Versuche, die Welt zu verstehen» ist das Ergebnis eines mehrwöchigen Dialogs zwischen südkoreanischen und deutschen Theatermacher*innen, die über ihre Realität, die Gesellschaft, die Welt und Bertolt Brechts Versuch, das Theater in seiner Zeit der Unsicherheit neu zu begreifen, diskutiert haben. Ausgehend von diesen Eindrücken hat Lee gemeinsam mit dem ebenfalls koreanischen Autor Hong-Do Lee eine Szenencollage entwickelt, in denen die Bühne zum (Schutz-)Raum für Versuche wird, die Welt im Theater zu reflektieren. In der Spielzeit 2024/2025 verbringt Hong-Do Lee im Rahmen von WELT/BÜHNE – Plattform für internationale Gegenwartsdramatik eine mehrmonatige Schreibresidenz in München.
Unterschiedliche Herkunft, Sprachen und Theaterästhetiken haben in dieser Zeit immer wieder verdeutlicht, wie vielfältig die Perspektiven auf die Welt sind – und wie zahlreich die Versuche, sie zu verstehen.