Überlagerungen
Das Theaterprojekt «Mitläufer» spürt der Geschichte des Residenztheaters in der NS-Zeit nach. Die Funde der Recherche legen sich in der Inszenierung gleich Schichten von Wahrheit übereinander, die sich ergänzen, widersprechen und durchkreuzen. Dramaturgin Carolina Heberling schreibt über den Prozess der Schichtungen.
Schicht 0: Die Webseite
Klickt man auf die Webseite des Residenztheaters, klappt rechts oben ein Menü aus. «Das Haus» heißt ein Reiter, hinter dem sich die Geschichte der Bühne verbirgt. Von der Bauhistorie der Spielstätten ist da zu lesen, von geschichtlich bedeutsamen Uraufführungen. Zum Nationalsozialismus heißt es lediglich, dass man 1944 die kunstvollen Schnitzereien des alten Residenztheaters in einer «waghalsigen Aktion» vor dem drohenden Bombenhagel gerettet habe. Drittes Reich, war da was?*
Schicht 1: Recherchen
Nachlesen, Informationen sammeln, sich darüber wundern, wie wenig die Wissenschaft sich bisher mit dem Thema beschäftigt hat. Gut erforscht ist die Geschichte der Bayerischen Staatsoper in der NS-Zeit, die bis Mitte der 1930er-Jahre noch gemeinsam mit dem Residenztheater geführt wird. Im Schauspiel dagegen gibt es nur zwei Arbeiten mit NS-Bezug: Eine Dissertation über die Spielpläne im Dritten Reich und einen Text über die Gestaltung der Programmhefte. Besonders die Führungsfiguren des Theaters bleiben eigentümlich blass.
Schicht 2: Eine Idee
«An jedem Theater, an dem ich in Deutschland inszeniere, frage ich mich, wie diese Institution sich in den Dienst eines totalitären Regimes begeben konnte, wer von diesem Machtwechsel profitierte und wer die Folgen einer rassistischen und mörderischen Ideologie erleiden musste», sagt Noam Brusilovsky, der deutsch-israelische Regisseur der Produktion «Mitläufer». Schnell ist für Noam und seiner Co-Autorin Lotta Beckers klar, dass es ein Stück über die Mächtigen werden soll: Intendanten, Chefdramaturgen.
Schicht 3 bis 99: In den Archiven
Es folgt das Wälzen von Akten in kühlen Räumen. Eintauchen in die Biographien von Oskar Walleck, dem Generalintendanten ab 1934, Alexander Golling, seinem Nachfolger, und Curt Langenbeck, dem Hausautoren und Chefdramaturgen der Ära Golling. Besonders im Fokus: Einerseits der persönliche Nachlass Langenbecks in Frankfurt, andererseits die nüchternen Akten der Spruchkammerverfahren von Walleck und Golling in München. Beide werden als «Mitläufer» eingestuft, wie so viele Verantwortungsträger der NS-Zeit. Vieles in den Aussagen der beiden liest sich wie ein Hindrehen, ein Relativieren, ein Leugnen der Geschichte. Dann gibt es da die Zeug*innenaussagen, die besonders Oskar Walleck stellenweise sympathisch scheinen lassen – ausgerechnet den Mann, der die Namen von jüdischen Mitarbeiter*innen wie die des Sängers Berthold Sterneck an die Gauleitung weitergegeben hat. Den Mann, der Tendenzstücke von Autoren wie Sigmund Graff oder Hanns Johst spielen ließ. Man kann es kaum glauben.
Schicht 100: Folgenreiche Begegnung
Treffen mit Historiker*innen, Suche nach Kindern und Rechtsnachfolger*innen der Intendanten. Anruf bei Claudia Golling, Tochter Alexander Gollings. Eine vorsichtige erste Begegnung: Wie die das wohl findet, dass die Nazigeschichten ihres Vaters wieder ausgegraben werden? Dann Erleichterung, weil Claudia das Projekt unumwunden unterstützt. Aber auch Verwirrung, weil einem aus ihren Erzählungen Alexander Golling als Vater entgegentritt, der überhaupt nicht so monströs wirkt, wie man Nazis oft denkt.
Schicht 101 bis 199: Raumvermessungen
Zeitgleich Erkundung des heutigen Residenztheaters, der Institution, in deren Wänden die Vergangenheit gespeichert ist – als vage Ahnung vom Gestern, als Wiederholen von Betriebsabläufen, die sich nur langsam verändert haben. Szenographin Magdalena Emmerig nimmt die Eindrücke in ihrem Bühnenbild auf: Auf der linken Seite der Bühne ein Nachbau der heutigen Pforte des Theaters mit Pinnwand, Feuerlöscher, Büromaterial. Daran anschließend: die Rekonstruktion eines Bühnenbilds von «Richard III.», in dem Alexander Golling in München brillierte. Davor: ein hölzerner Tisch mit vier Stühlen. Er erinnert an die improvisierten Räume, in denen nach 1945 vielerorts die Spruchkammerverfahren verhandelt wurden. Ganz vorn am Bühnenrand der Schriftzug «Bayerisches Staatsschauspiel», in den 1990er-Jahren am Haus angebracht. Er wirft lange Schatten. Rechts etwas abseits: ein Sessel, einem Möbelstück aus dem Wohnhaus Alexander Gollings nachempfunden. An den Wänden des Marstalls schließlich: Ranken von Efeu. Ist Gras über die Sache gewachsen?
Schicht 199 bis 300: Die Proben
Probenbeginn im September 2023. Nach einem Jahr Recherche ist die Erkenntnis gereift, dass man bisher nur einen sehr kleinen Ausschnitt der Geschichte begriffen hat. Nun gilt es, aus den gesammelten Informationen mit dem Ensemble interessante Figuren herauszuarbeiten. All das geschieht unter dem wachen Blick von Claudia, die ebenfalls mitspielt und auf der Bühne von ihrem Vater berichtet. Nach und nach entstehen Persönlichkeiten: In der Pförtnerloge wird Max Mayer als Curt Langenbeck gleichsam zum fiktiven Autoren und kritischen Beobachter des Abends, spielt nicht nur den Chefdramaturgen, sondern auch den Chefideologen des Theaters. Steffen Höld kehrt als Oskar Walleck das Beamtische und Saubere des historischen Vorbildes hervor: Alles muss korrekt sein. Nur was korrekt ist, das ändert sich für Walleck, der nach Intendanzen in München und Prag dem Theater enttäuscht den Rücken kehrt und an die Front geht. Michael Goldberg als Alexander Golling arbeitet sich an einer ganz anderen Aufgabe ab: Als Schauspieler einen Schauspieler spielen, in all seinen Talenten, Unsicherheiten und Eitelkeiten. Schließlich habe er doch immer nur spielen wollen, sagt seine Tochter Claudia. Es wird viel gelacht, wenn Goldberg diesen Golling mimt.
Schicht 301 bis 599: Zwischen den Medien
Dann sind da die Medien, die sich über den Raum und die Körper legen. In Tin Wilkes Videoskulpturen werden 3-D-Modelle einer Stadt gezeigt, die in ihrer Architektur und in den darauf projizierten Videotexturen auf die NS-Zeit referieren. Überlagert werden sie von Bildern einer KI, die mit Archivmaterial aus dem Bestand des Deutschen Theatermuseums trainiert wurde. Schemenhaft erkennt man Spuren von Wänden, Fenstern, Vorhängen, Treppen und Menschen mit abstrakten Gesichtern. Geister der Vergangenheit. Dokumentarische Aufnahmen des heutigen Cuvilliéstheaters und Videos von Schauspieler*innen des aktuellen Ensembles, die als Zeug*innen der Ereignisse sprechen, schaffen die Verbindung und Kontinuität zum Jetzt. Das Spiel zwischen den Zeiten setzt sich auch im Soundtrack von Tobias Purfürst fort, der sich dem historischen Kontext auf verschiedenen Ebenen nähert. In seinen hybriden elektronischen Kompositionen sind Samples aus Audioarchiven zu hören, aber auch eine vermeintlich analoge «Stille», die die Lücken zwischen Gesagtem und Gespieltem markiert. Die Rhythmen und Tonhöhen dieser abstrakten Oberflächen bleiben unstetig und drängend. Unterbrochen werden sie durch Frequenzen eines ‚Volksempfängers‘. Er kündigt Radiomitschnitte und Fragmente von Märschen, Opern und Kantaten an, die im direkten geschichtlichen Bezug zum Haus stehen.
Schicht 600 bis X: Auftrag
Am historisch hochgradig aufgeladenen 9. November geben wir dem Haus mit der Premiere von «Mitläufer» ein kleines Stück seiner Geschichte zurück – so dicht geschichtet, dass der Stapel dicker wirkt als viele der Akten in den Archiven. Und doch entsteht mit jedem neuen Layer eine neue Lücke. Von vielen Mitarbeiter*innen des Hauses ist nicht einmal ein Name geblieben. Dann sind da die, die in den 1930er-Jahren gekündigt wurden, ohne dass die Gründe dafür aus den Dokumenten ersichtlich wären. Und schließlich die Menschen, die geblieben sind, und deren Biographien auf andere, bisher nicht erzählte Weisen widersprüchlich sind. Nicht zu vergessen Curt Langenbeck selbst: Sein riesiger Nachlass liegt von der Wissenschaft bisher kaum beachtet in Frankfurt und wartet auf Betrachtung. War es das nun? Mitnichten.
*Angestoßen und ausgehend von den Rechercheergebnissen von «Mitläufer» wird das Residenztheater im Anschluss an die Produktion die weitere kritische Aufarbeitung mit der eigenen Geschichte sichtbarer machen.