«Frühstücken oder nicht»
Autorin Nele Stuhler und Regisseur FX Mayr im Gespräch mit Dramaturg Ilja Mirsky über eine Welt voller scheinbarer Gegensätze
In «UND ODER ODER ODER ODER UND UND BEZIEHUNGSWEISE UND ODER BEZIEHUNGSWEISE ODER UND BEZIEHUNGSWEISE EINFACH UND» erschafft die Autorin Nele Stuhler gemeinsam mit dem Regisseur FX Mayr durch das poetische Nebeneinander von scheinbaren Gegensätzlichkeiten vielschichtige Assoziationsräume, in denen sich die Komplexitäten unserer Gegenwart widerspiegeln.
Im Griechischen bedeutet «dichótomos» zweigeteilt, eine Aufspaltung in zwei Hälften. Leben wir heute in einer dichotomen Welt, einer Zeit der Gegensätze?
FX MAYR: Nein, das würde ich nicht sagen. Aber ich glaube, die Art, wie wir uns fortbewegen – also die Tatsache, dass sich Menschen und Gesellschaften weiterentwickeln – ist stark von Dichotomien geprägt. Wer sich unabhängig von ihnen bewegen will, muss enorm viel leisten. Es ist doch bemerkenswert, in welche Kategorien wir uns einordnen müssen und wie wir sozialisiert werden. Die Art, wie wir leben oder gelebt werden, wie wir betrachtet werden oder uns gegenseitig betrachten hat eine gewaltige, fast monströse Kraft. Sie zwingt uns, uns irgendwo hineinzupressen. Eigentlich kann man da kaum von einem wirklichen Leben sprechen. Prinzipiell würde ich aber sagen, dass die Welt selbst nicht dichotom ist.
NELE STUHLER: Ich würde auch nicht sagen, dass mein Text von Dichotomien handelt. Der Text spielt mit Gegenüberstellungen, die nicht zwingend echte Dichotomien sind – also Begriffe, die keine Schnittmenge besitzen –, es schleichen sich auch eine ganze Menge Schein-Dichotomien ein bis hin zu dichotomen Anmaßungen. Es geht dabei um die Art und Weise, wie wir die Welt im Denken und Sprechen aufteilen. Der Text probiert mit Denkmustern herum, um die oft absurden Logiken im eigenen Kopf in Frage zu stellen: Wie ordne ich Dinge zueinander, um damit die Welt zu ordnen, und warum benötige ich dafür Gegensätze? Warum immer ausgerechnet genau zwei? Wir teilen die Welt ständig in duale Kategorien auf, obwohl diese dichotome Einteilung oft nicht aufgeht. Ist das Gegenteil von Leben Tod? Oder ist es nicht eher grundsätzlich unbelebte Materie? Ist das Gegenteil von Liebe Hass? Oder sind das nicht beides Varianten des Gleichen? Die Denkstruktur der Dichotomie beeinflusst dabei nicht nur unsere Art, Dinge zu verhandeln, sondern auch unser Handeln selbst.
FX MAYR: Unsere Textpartitur ist ein Gedicht, aber gleichzeitig auch kein Gedicht. Beides trifft zu, und das schmälert die Aussage in keiner Weise.
Ihr habt das Stück nicht nur im engen Austausch von Autorin und Regisseur entwickelt, sondern im Rahmen der Mülheimer StückeWerkstatt schon früh mit Schauspieler*innen des Resi-Ensembles ausprobiert und 2022 eine erste Version in einer Lesung präsentiert. Wie hat sich die Textpartitur entwickelt? Habt ihr es auf eine Komödie angelegt - so wie zumindest das Mülheimer Publikum die ungewöhnliche Form des Texts interpretierte?
FX MAYR: Ich muss sagen, dass ich den Text gar nicht witzig finde, obwohl ich manchmal lachen muss. Es geht nicht um den Witz an sich. Ich will auch nicht behaupten, dass eine Komödie nur existiert, um witzig zu sein. Manchmal macht mich der Humor eher traurig, weil er mit dem Gefühl verbunden ist, noch nicht ganz da zu sein – noch nicht den Ernst, also das Wesentliche, erreicht zu haben. Für mich ist Humor oft ein Marker für tiefsitzende Ängste. Die Welt, die sich im Stück eröffnet, ist vielleicht eine meiner liebsten: Menschen versuchen, in Worten zu begreifen, wo sie überhaupt gelandet sind. Und mit «da» meine ich nicht das Theaterstück oder die Bühne, sondern unseren Planeten. Und sie schaffen es nicht. Wir schaffen es einfach nicht. So eloquent kann man gar nicht sein. Wir haben uns auf die Sprache als unser Medium geeinigt, und doch ist sie ein ziemlich schlechtes Medium. Unsere Empathie ist in den Bereich der Höflichkeiten abgedriftet, das echte Spüren und Fühlen ist verschwunden. Unsere Körper haben sich hinter Geschlechts- und Rollenbildern, Sexualitäten und Moden versteckt und werden dort gequält und gefoltert. Uns bleibt nur diese unzulängliche Sprache, und ständig sagt jemand etwas, das die anderen nicht wirklich verstehen. Manche nutzen sie auch, um andere auszuschließen. Ich will nicht zynisch klingen, aber es ist schon ironisch, dass wir damit leben müssen – mit diesen endlosen Gesprächen, wo es immer heißt, man müsse reden, reden, reden. Und das stimmt ja auch.
NELE STUHLER: Wenn ich sage, das ist eine Komödie, glaube ich dasselbe damit zu meinen wie du, wenn du sagst, dass es eine Komödie ist. Aber eigentlich müssten wir erstmal das Gespräch darüber führen, ob das stimmt und welchen Definitionsraum Komödie abdeckt. Wir glauben immer, die Bedeutung von Worten zu kennen, aber die sind sehr individuell. Ich möchte zum Beispiel die Dichotomie von «witzig» und «ernst» in Frage stellen. Ich verstehe grundsätzlich nicht, warum etwas, das Lachen erzeugt, nicht auch eine ernsthafte Betrachtung der Welt sein kann. Wir können mit Situationen oft nur umgehen, weil wir versuchen, irgendwo den Humor herauszuholen – was gleichzeitig bedeutet, dass wir wissen, wie ernst die Dinge sind. Und wir lachen manchmal, gerade weil das Beschriebene so ernst ist. Für mich wird ein Theatertext erst dann wirklich interessant, wenn sich Humor und Ernsthaftigkeit produktiv überlagern und nicht mehr als Dichotomien betrachtet werden. Vielleicht ist das auch so eine Eigenart des Theaters: Text wird nur «witzig», wenn er selbst völlig ernst gemeint ist. In solchen Momenten schreien sich Ernsthaftigkeit und Witz förmlich an, bis sie eins werden. Das steht exemplarisch für grundlegende Fragen zu Dichotomien: Je genauer man die Dinge betrachtet, desto mehr erkennt man, dass sie oft gar nicht voneinander zu trennen sind.
Abschließend: Was ist euer liebstes dichotomisches Paar in dem Stück?
NELE STUHLER: Das ist schwierig.
FX MAYR: Für mich sind es die einfachen, rhythmischen Dinge: Einfügen, Umbruch, Einfügen, Umbruch.
NELE STUHLER: Oder: langweilig, spannend, langweilig, spannend.
FX MAYR: Wunderschön ist auch: «Stapellauf, Stapellauf, niemand hält den Stapel auf».
NELE STUHLER: Eine meiner liebsten Stellen ist aber die eher undichotome Passage: «Waschmaschine / Spülmaschine; Augenbrauen /Wimpern». Das beschreibt für mich ganz viel in der Welt.
Die Fragen stellte Dramaturg Ilja Mirsky.