UND TROTZDEM HOFFEN
Autor Ewald Palmetshofer im Gespräch mit Dramaturgin Constanze Kargl über das Potential von Neudichtungen, der Figur Falstaff und die Hoffnung in Zeiten der Krise.
Bereits deine beiden Stücke «Edward II. Die Liebe bin ich» nach Christopher Marlowe und «Vor Sonnenaufgang» nach Gerhart Hauptmann sind Überschreibungen klassischer Dramentexte. Bei «Sankt Falstaff» greifst du nun lose auf Shakespeares selten gespieltes Historienstück «King Henry IV» zurück. Welche Möglichkeiten bietet eine Neudichtung?
Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Jede Vorlage bietet andere, je eigene Möglichkeiten. Bei meiner Neudichtung von «Edward II» konnte ich beispielsweise vor allem mit Marlowes Sprache arbeiten. Ich habe versucht, einen gewissen rauen Ton, den ich im englischsprachigen Original erahnt habe, ins Deutsche zu übertragen und Marlowes Furor für das heutige Publikum erlebbar zu machen. In der Beschäftigung mit Gerhart Hauptmanns «Vor Sonnenaufgang» hingegen haben vor allem seine Figuren und deren Konstellationen einen besonderen Möglichkeitsraum aufgemacht. Ich habe die Figuren in die Gegenwart überführt und den Stoff von ihnen ausgehend neu erzählt, ohne mich dabei jedoch an Hauptmanns Sprache zu orientieren. Verglichen mit «Edward II» war das eine sehr andere Vorgehensweise.
Die Arbeit an «Sankt Falstaff» war eine Mischung aus diesen beiden Zugängen: Hier habe ich versucht, sprachlich stark zuzugreifen und sehr geformt zu arbeiten, und ich habe mir von Shakespeare einige Figuren ausgeliehen und sie mir als Menschen von heute vorgestellt. Anders als bei meiner Marlowe-Arbeit wollte ich aber das Königsdrama weitgehend abstreifen. Ich wollte herausfinden, was diese Gattung innerhalb einer nicht-monarchischen politischen Ordnung bedeuten könnte. Darum habe ich das politische Setting anders verortet: Aus Shakespeares König ist in meinem Stück ein Quasi-König geworden, eine Politikerfigur der Gegenwart, die sich allerdings wie ein König verhält – autoritär und mit absoluter Machtkonzentration.
Wenn ich in unterschiedlichen Ausgangstexten jeweils andere Möglichkeitsräume sehe, heißt das für Neudichtungen aber auch, dass der Dialog mit der jeweiligen Vorlage vor allem mich als Dramatiker betrifft. Der Ausgangstext stellt für meine Arbeit eine Art Basis dar – für die Zuschauenden ist er das allerdings nicht. Das Publikum braucht das zugrunde liegende Stück nicht zu kennen. Da muss man sich nicht extra schlau machen.
Shakespeare etabliert zwei gleichberechtigte Handlungsstränge: den der strengen Welt des Hofes und den des derben Milieus der Kneipe. Auch bei dir finden sich mit dem «Haus der Macht» und dem «Container-Club» zwei sehr unterschiedliche Räume. War es reizvoll, die vielfältigen Verknüpfungen der beiden Ebenen in «Henry IV» in das 21. Jahrhundert von «Sankt Falstaff» zu transponieren?
Der Ort der Kneipe führt bei Shakespeare – so würde ich das beschreiben – die Komödie ins Königsdrama ein. Durch diese beiden sehr unterschiedlichen Orte kann das Stück ständig zwischen hohem und eher direktem Ton hin- und herspringen. Und vielleicht ist es auch diese Mischung, die das Stück im englischen Sprachraum so beliebt gemacht hat: Ein Königsdrama, das immer wieder von humoristischen Szenen aufgebrochen wird. So könnte man sich in Shakespeares Stück «Richard II», das sozusagen die Vorgeschichte erzählt, eine derartige Mischform nicht vorstellen – dort ist alles ernst und geradezu lyrisch getragen. Ich finde aber, dass die Sache bei Shakespeare auch einen Haken hat: Der Blick in die Kneipenwelt ist tendenziell ein Blick nach unten. Shakespeare lässt keinen Zweifel daran, dass der alleinig maßgebliche und bedeutsame Raum jener der politischen Macht ist – über die «einfachen» Leute in der Kneipe kann man sich hingegen ruhig lustig machen: Die Wirtin verheddert sich andauernd in falsch verwendeten Fremdwörtern, der Kellner stottert und die Kellnerin ist von zweifelhaftem Ruf. Die beiden Welten sind getrennt und ganz klar hierarchisch geordnet, die Kneipensprache ist verlottert, bei Hof spricht man hingegen gehoben und mit Gewicht. Ich habe versucht, diese Ordnung in meinem Text ein bisschen aufzumischen – sprachlich und nicht zuletzt durch ein Spielprinzip, wodurch manche Schauspieler*innen Figuren in beiden Sphären verkörpern. Tatsächlich war es reizvoll und auch ein bisschen kniffelig, die beiden scheinbar getrennten Welten und ihre Plots anders zu verweben, den erwähnten Blick nach unten nicht zu reproduzieren und zu überlegen, von welcher Art von Staat der Gegenwart hier überhaupt die Rede sein soll.
Falstaff, der Ritter aus «Henry IV», intellektuell und rhetorisch wendig, dem Exzess im Allgemeinen und dem Alkohol im Speziellen nicht abgeneigt, erfreut sich vor allem beim englischen Publikum großer Beliebtheit. Wie erklärst du dir diesen Erfolg? Und warum ist die Figur trotz aller Wertschätzung auch durch die Kritik auf deutschsprachigen Bühnen außerhalb der gleichnamigen Verdi-Oper kaum präsent? Oder anders gefragt: Was hat dich an Falstaff so fasziniert, dass du ihm ein eigenes Stück auf den Leib geschrieben hast?
Ich glaube, dass die Popularität bei Shakespeares Zeitgenoss*innen etwas mit der Nähe des Stoffes zum Volkstheater und zur Tradition der «morality plays» zu tun hat, in denen allegorische Figuren wie etwa die Tugend oder das Laster auftreten – man kann sich das wie in Hugo von Hofmannsthals Stück «Jedermann» vorstellen, das seinerseits auf ein derartiges morality play zurückgeht. Man könnte die Geschichte von John Falstaff und dem jungen Harry darum auch so erzählen: Das Laster (also Falstaff) trifft auf die noch nicht erwachte Tugend (Harry); es frönt diversen Ausschweifungen, zelebriert Völlerei und Suff, Müßiggang und derben Witz; die jugendliche Tugend verfällt dem Laster, sinkt tief, kommt zur Besinnung, erlebt eine Art Bekehrung und schlägt schließlich den Weg der Tugend ein – Ende. Das ist holzschnittartig gezeichnet und durchaus amüsant. Das Publikum erkennt sich im Laster ebenso wie im Anspruch der Tugend. Shakespeares Falstaff – zumindest in den «Henry»-Stücken, denn er tritt ja auch in «Die lustigen Weiber von Windsor», der Vorlage für Verdis Oper, auf – speist sich noch aus dieser Tradition. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum er näher betrachtet eigentlich eine seltsam leere Projektionsfläche ist. Er kann alles verkörpern, in ihn kann man alles hineinlesen. Shakespeare musste ihn gar nicht sonderlich ausstaffieren, weil sich das Laster in den Zuschauenden quasi von selbst anreichert. Und vermutlich hängt mit dieser Verwurzelung in der Tradition der morality plays noch eine andere Eigenheit des Stoffes zusammen: Er hat einen sonderbaren, fast schon reaktionär anmutenden Geruch. Letztendlich feiert er auf seine Art den Sieg der Ordnung, die Überwindung des Lasters, die Rückkehr des Gestrauchelten in die hierarchische Gesellschaftsordnung, an deren Spitze ein Alleinherrscher thront. Die Kneipe ist dann nur mehr Makulatur, ein Un-Ort vergangener, überwundener Versuchung. Der neue König fegt das Laster zur Seite, wie auch dessen Verkörperung, diesen John Falstaff – und Shakespeare tut es ihm als Autor tatsächlich gleich. Im Sequel «Henry V» ist John nur noch eine Fußnote der Vergangenheit, er wird mit einem Nebensatz dem Vergessen überantwortet – lang aber lebe der König. Diese Wischbewegung, dieses Wegfegen, Wegwischen war es auch, was beim ersten Kontakt mit diesem Stoff mein Interesse geweckt hat – wobei der Begriff «Interesse» zu neutral formuliert ist. Tatsächlich hat mich Johns Weggefegt-Werden ziemlich empört, weil ich in der Beziehung zwischen ihm und Harry etwas wie Liebe vermutet habe, eine Liebe zwischen zwei Menschen, die aus völlig unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten oder Klassen kommen. Und diese besondere Nähe, dieses Begehren musste also offenbar weichen, musste weggewischt werden, damit die Ordnung wieder siegen kann! Das hat mich irritiert und damit waren für mich bereits einige Themen angestoßen, die dieser Stoff aufwirft: Gibt es hier – auch wenn Shakespeare das nicht deutlich sagt – Liebe und Begehren? Woher kommt dieser Blick nach unten und ist er der Klassendifferenz seiner Figuren gegenüber gleichgültig? Und welche Ordnung wird da überhaupt wieder eingesetzt? Und vor allem: Muss man das wirklich wollen? Natürlich hat letzteres bei Shakespeare auch mit den historischen Quellen zu tun, die er verarbeitet, gewiss auch mit staatlicher Zensur und mit dem Genre selbst – das Historienstück oder Königsdrama (zu dessen Publikum auch die Königin zählte) lässt die gesellschaftliche Ordnung, von der es handelt und auf der es beruht, letztlich unangetastet. Für meine Neudichtung stellt sich das anders dar.
Polykrisen allerorten – Demokratiekrise, Klimakrise, Wirtschaftskrise. Neben praktiziertem Populismus bedient sich die Regierung in «Sankt Falstaff» der Mittel der Erpressung, der Falschinformation, eines flächendeckenden Überwachungsapparates, einer Exekutive, die Demonstrationsniederschlagungen garantiert, und einer bestechlichen Judikative, die Urteile per Schnellverfahren gegen Aufstandstreibende fällen lässt. Unweigerlich muss man dabei auch an beunruhigende Aushöhlungen europäischer Demokratien wie etwa in Ungarn oder der Slowakei denken. Ist das intendiert?
Wie ich schon beschrieben habe, kommt Shakespeares Stück nicht umhin, die Wiederherstellung oder Stabilisierung der politischen Ordnung zu bejahen. Was aber – und das ist die Frage, die meine Neudichtung bestimmt hat –, wenn diese Ordnung eine der Unterdrückung ist? Was, wenn es sich um ein illegitimes System handelt? Der Bruch, der in «Sankt Falstaff» mit der Machtergreifung Heinrichs einhergegangen ist, ist der Umbruch von einer demokratischen, liberalen Staatsform zu einem autoritären System. Ich habe in «Sankt Falstaff» das Königsdrama in das Drama einer ausgehöhlten, illiberalen Demokratie verwandelt. Heinz ist darin nicht König, sondern bloß Quasi-König, ein Politiker der Gegenwart oder nicht allzu fernen Zukunft, der auf den Trümmern einer ehemals demokratischen Ordnung mit maximaler Machtfülle quasi wie ein König regiert. Und wenn es diesem Machthaber auch gelungen ist, mit gerade noch demokratisch legitimierten Mitteln an die Macht zu gelangen, so muss er nach der Machtergreifung dieses System von innen her zersetzen, um seinen Machterhalt zu sichern. Alle Mechanismen, die Demokratien und Rechtsstaaten zur Beschränkung, zeitlichen Begrenzung, zur Kontrolle und Verteilung von politischer Macht bereitstellen, müssen nach und nach außer Kraft gesetzt werden. Dass man dabei an die von dir genannten Staaten denkt, ist also kein Zufall. Dabei hat mein Stück England verlassen, es spielt in einem namenlosen Staat irgendwo. Jetzt oder demnächst.
Mehr zum Stück und das komplette Gespräch mit Ewald Palmetshofer finden Sie im Programmheft der Produktion. Das Programmheft ist erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als gekürzte Onlineversion zum Download hier.