DIE SALOME VOM PRINZREGENTENPLATZ
Der Autor Jarosław Murawski über seine Bearbeitung von Oscar Wildes «Salome» und Ewelina Marciniaks Inszenierung am Residenztheater.
Bei der österreichischen Premiere von Richard Strauss’ Oper «Salome» in Graz im Jahr 1906 trafen sich die größten Musikerpersönlichkeiten der damaligen Zeit. Gustav Mahler, erster Kapellmeister und Direktor der Wiener Hofoper, war eigens angereist und unternahm mit Strauss vor der Aufführung noch einen Spaziergang in den umliegenden Bergen. Auch Giacomo Puccini, Komponist von «La Bohème» und «Tosca», und Arnold Schönberg, der Papst der neuen atonalen Musik, den Strauss um seinen Kreis fanatischer Anhänger beneidete, ließen sich das Ereignis nicht entgehen. Einigen Quellen zufolge saß im Publikum auch ein 17-jähriger Musikbegeisterter, ein künftiger Politiker mit nationalistischen Ansichten, den bald ganz München, ganz Deutschland und die ganze Welt kennenlernen sollte ... Und sogar – wenn man Thomas Mann glauben darf – Adrian Leverkühn, der Held seines Romans «Doktor Faustus».
Diese historische Opernpremiere bildet den Ausgangspunkt und zugleich den Beginn unserer «Salome»-Inszenierung am Residenztheater. Theater ist ein Raum der Möglichkeiten und der Phantasie, ein Raum in dem alles erlaubt ist. Deshalb haben wir uns erlaubt, für unseren Abend noch weitere Premierengäste einzuladen, die sich in der Realität jedoch niemals begegnet sind. Einer davon ist Oscar Wilde, der Autor der «Salome», der einige Jahre zuvor bereits verstorben war. Und Angela ‹Geli› Raubal, die 1906 zwar noch nicht auf der Welt war, sich aber trotzdem zu einer der Hauptfiguren unserer Inszenierung entwickelt. Die Geschichte von Geli Raubal erwies sich als entscheidend für die Konzeption unserer «Salome»-Adaption. Sie war nicht nur die Tochter von Adolf Hitlers Halbschwester Angela, sie war auch Hitlers platonische, vielleicht sogar wirkliche Geliebte, mit der er als ihr Vormund in seiner Münchner Wohnung am Prinzregentenplatz zusammenlebte. Es gibt Geschichten, die nur darauf warten, erzählt zu werden und als ich mich mit der Biografie von Geli beschäftigte, war ich überrascht, wie sehr sich das Schicksal von Geli – dem jungen Mädchen, eingesperrt in einem goldenen Käfig – in der Geschichte der biblischen Salome widerspiegelt.
«Tanze für mich», fordert König Herodes in Wildes Stückvorlage wiederholt von seiner Stieftochter Salome und setzt sie damit einem Raum aus männlichen Blicken und Begehren aus. Vergleichbar sperrte auch Hitler Geli in seine Wohnung am Prinzregentenplatz ein, kontrollierte ihr soziales Leben, wählte ihre Bekanntschaften aus, beobachtete sie und benutzte sie laut einiger Quellen sogar als Aktmodell.
Bei uns erkennt sich Geli und ihre eigene Situation in jener Salomes wieder, daraus ergibt sich ein Spiel im Spiel, eine Art Theater auf dem Theater. Denn sie und die anderen Premierengäste verfolgen nicht nur passiv die Geschichte von Salome, Herodes, Herodias und dem Propheten Jochanaan (Johannes dem Täufer), sie kommentieren auch das Geschehen auf der Bühne unmittelbar und greifen später sogar aktiv in die Handlung ein. Wir als Zuschauer*innen erleben hingegen, wie sich die beiden Ebenen erst einander gegenseitig spiegeln und dann miteinander vermischen. Sicht- und vor allem emotional nachvollziehbar wird dies vor allem bei den beiden Hauptfiguren: Salome und Geli. Beide sind sich ihrer sexuellen Attraktivität und ihrer Wirkung auf Männer sehr bewusst. Salome setzt sie kalkuliert ein, um ihre Ziele zu erreichen. – «Du willst das Spiel spielen? Nur zu!», scheint Herodias’ Tochter zu sagen, die vom Objekt der Begierde zur Spielerin in eigener Sache wird. Salome verführt den Wächter Narraboth, um an den von ihrem Stiefvater gefangenen Propheten heranzukommen.
Sie ist von Jochanaans ungewöhnlicher Schönheit genauso fasziniert wie Herodes von Salomes Schönheit und Jugend. Auch Geli ist sich ihrer äußeren Wirkung sehr bewusst und gewinnt damit Macht über ihren Onkel. Zwar könnte sie ihr luxuriöses Leben an seiner Seite aufgeben – doch will sie das?
Salome und Geli begegnen sich bei uns auch im berühmten «Tanz der sieben Schleier». Jahrzehntelang wurde der Tanz, den Salome auf Wunsch von Herodes aufführt, als Beispiel für die Zügellosigkeit weiblicher Sexualität interpretiert. Viele Opernsängerinnen weigerten sich, ihn auf der Bühne darzustellen und in der NS-Zeit wurde er zum Exempel für die «moralische Verderbtheit» der Juden stilisiert. Aber auch ohne die Nationalsozialisten verkörperte Salome seit jeher jene sexuelle Hemmungslosigkeit und gefährliche Begierde einer Frau, die bei entsprechender Gelegenheit «außer Kontrolle» geraten kann – männlicher «Kontrolle», versteht sich.
In unserer Interpretation ist der «Tanz der sieben Schleier» ein Akt der Befreiung, ein Synonym für den Ausbruch sexueller Freiheit – Sexualität nicht verstanden als Währung innerhalb dem Kosmos menschlicher Beziehungen, sondern als eine entscheidende Voraussetzung für die Vollendung des eigenen Individuationsprozesses, als eine Befreiung aus dem Käfig der Erwartungen anderer. – «Ich will das für mich!», sagt Geli einmal. Salome lässt sich an diesem Punkt von ihrer Begegnung mit Jochanaan inspirieren, einem Propheten, der ein Leben jenseits aller gesellschaftlichen Erwartungen an seine Person lebt – auch jenseits einer klar definierten Identität, einschließlich einer sexuellen. Jochanaan konfrontiert Herodes und Herodias mit ihrer bürgerlichen Selbstzufriedenheit, indem er ihren Lebensstil mit Beleidigungen und Flüchen attackiert – in einer Sprache, die über Jahrhunderte von den Ideologen der monotheistischen Religionen in enger Zusammenarbeit mit politischen Repräsentanten entwickelt wurde und er so deren gewalttätigen und despotischen Charakter offenlegt. Er spuckt diese Worte aus, als wolle er sie endgültig loswerden, als seien sie eine Last, die den Übergang zu etwas Anderem, Höherem verhindern. Aber wer ist dieser Messias, den er ankündigt? Sicherlich niemand, der von einer Herrschaft über die Menschen und über die Welt träumt. – «Ich bin die Schwäche und das Elend, weil die Revolution mit der Zerbrechlichkeit beginnt», sagt unser Jochanaan in Anlehnung an die französische Feministin und Philosophin Luce Irigaray. Aber wird bis zum Erscheinen dieses Messias – falls er überhaupt jemals erscheint – nicht längst ein anderer an seiner Stelle auferstanden sein?
Was für Salome die Begegnung mit Jochanaan ist, ist für Geli die Begegnung mit Oscar Wilde. Der Lebemann, der aus seinen sexuellen Vorlieben keinen Hehl machte, hatte mit der Veröffentlichung seines Romans «Das Bildnis des Dorian Gray» einen Skandal ausgelöst. So stand er schon vor der Premiere von «Salome» gewissermaßen unter öffentlicher Beobachtung. Der Versuch, Oscar Wildes «Salome» 1892 in London mit dem großen französischen Star Sarah Bernhardt auf die Bühne zu bringen, wurde von der englischen Zensur gestoppt – ein Gesetz verbot die Darstellung biblischer Figuren auf dem Theater. Somit wurde das Stück erst 1896 in Paris uraufgeführt, als Wilde bereits wegen homosexueller «Unzucht» im Gefängnis saß. – «Ich war wegen der Liebe im Gefängnis», erklärt Wilde Geli, woraufhin die junge Frau beschließt, sich aus der Vormundschaft und Enge ihres Onkels zu befreien und ihren wahren Gefühlen zu folgen. Leider endete ihre Geschichte – genau wie jene Salomes – tragisch. Angela Raubal beging 1931 mit Hitlers Pistole Selbstmord, obwohl vieles darauf hindeutete, dass ihr jemand dabei geholfen hatte – denn für eine Linkshänderin ist es nicht einfach, sich aus einem Meter Entfernung in die linke Lunge zu schießen.
Und schließlich gibt es in unserer Inszenierung noch die Figur von Richard Strauss, dem Komponisten der gleichnamigen Oper. Er spielte eine zwiespältige Rolle innerhalb des Dritten Reichs: Einerseits kooperierte er zwar bereitwillig mit dem Regime, um darüber seine nichtarische Schwiegertochter und Enkelkinder zu schützen. Andererseits festigte er so seine herausragende Stellung als Vorzeigekünstler der Nazis und profitierte mit den an ihn verliehenen Ehrungen und Ämtern auch finanziell. Den Kauf seiner Villa in Garmisch finanzierte er Dank des enormen Erfolgs seiner «Salome». Ein Erfolg, der für Arnold Schönberg ein einziges Rätsel war – seiner Meinung nach konnte gute Kunst nicht gleichzeitig Publikum und Kritik begeistern. Doch Wildes Stück und Strauss’ Musik zusammen gelang es, der Figur der Salome eine tragische Note zu verleihen, der sich weder Publikum noch Kritik entziehen konnten.
Wenn man jedoch heute «Salome» auf die Bühne bringt, wünscht man sich ein anderes Ende. Statt sie sterben zu sehen, möchte man diese junge Frau lieber vor ihrem Tod bewahren. Gerade weil sie so verzweifelt versucht, sich aus ihrem familiären Gefängnis zu befreien und Jochanaans Vision von einer anderen Welt zu begreifen. «Man kann diese Gesellschaft nicht ändern, indem man die Regeln dieser Gesellschaft anwendet», könnte Jochanaan darauf antworten und wäre es nicht auch naiv, Salome von ihrem Weg in den Tod abzubringen, vor allem angesichts dessen, was gerade weltweit geschieht? Der Kampf um die eigene Freiheit, den Salome – und dank ihrem Vorbild auch Geli – führt, ist nicht zu gewinnen. Die heute immer weiter fortschreitende konservativ-populistische Gegenrevolution, die sich mittlerweile über den gesamten Globus verbreitet, marschiert vor allem mit Slogans voran, die die Einschränkung von Rechten von Frauen und Minderheiten propagieren. Vor diesem Hintergrund erscheinen das Stück von Wilde und die Oper von Strauss wie eine Warnung. Allein deshalb lohnt es sich, sie zu erzählen. Gerade jetzt, wo es noch immer zu viele Männer gibt, die bereit sind zu rufen: «Tötet dieses Weib!»
Mehr zum Stück finden Sie im Programmheft der Produktion. Das Programmheft ist erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als gekürzte Onlineversion zum Download hier.