BROT UND ROSEN
Dramaturgin Katrin Michaels über Hintergründe zu «Pygmalion» und spätere Bearbeitungen wie «My Fair Lady». Amir Reza Koohestani und Mahin Sadri interpretieren George Bernard Shaws Original für das Residenztheater neu.
Im antiken Mythos von Pygmalion erweckt die Göttin Aphrodite eine Statue des Bildhauers auf sein Flehen hin zum Leben. In George Bernards Shaws gleichnamigen Stück ist der Vorgang umgekehrt: Liza steht auf eigenen Beinen, ist finanziell unabhängig, gnadenlos schlagfertig und kennt kein Klassendenken – nur ein bisschen mehr würde sie schon gern verdienen. Lediglich aus dem Blickwinkel der Oberschicht ist sie von Grund auf ungenügend: ihre Sprache, ihre Kleidung, ihre direkte Art – all das macht sie zu jemandem, über den man frei verfügen kann, dem weder Handlungsspielraum und Gefühle zugestanden werden. Selbst ihren Namen verändert Professor Higgins in das feinere Eliza. Erst nachdem er ihr Wesen dem Habitus seiner eigenen Klasse angeglichen und ihr allen Eigenarten abtrainiert hat, nimmt er sie als eigenständige Person wahr, die in Wirklichkeit doch eher eine Puppe gesellschaftlicher Konventionen geworden ist.
Doch was passiert jetzt? Ovids Erzählung endet mit der trauten Zweisamkeit vom liebenden Pygmalion und dem Objekt seiner Begierde. Und Shaws «Pygmalion» endet seit der Uraufführung des Stücks 1913 anders, als der Autor es vorgesehen hat: Kaum eine Inszenierung oder Verfilmung, von der Musicalversion «My Fair Lady» ganz zu schweigen, erzählt das Ende des Stücks ohne eine Geste der Versöhnung zwischen den beiden Hauptfiguren, dabei sind Lizas letzte Worte im Stück eindeutig: «Dann werde ich Sie nicht wiedersehen, Professor. Leben Sie wohl.» Higgins ruft ihr noch eine Einkaufsliste hinterher, doch auch seine Mutter hat verstanden, dass dieser Abschied ein endgültiger war und bietet sich an, ihm die gewünschte Krawatte zu besorgen.
Vielleicht liegt es in der titelgebenden Anspielung auf den Mythos, dass die meisten Interpret*innen auf die ein oder andere Art eine Liebesbeziehung zwischen Liza und Higgins sahen und sehen – für Shaw stand etwas anderes im Vordergrund, nämlich das Problem, das sich zu seiner Zeit aus dem Experiment ergab: Als Dame der Gesellschaft ist es mit Lizas Eigenständigkeit vorbei, sie kann nur auf Kosten eines Mannes leben, sei es ein Ehemann oder ihr Vater. Nachdem Shaw einsehen musste, dass sich mit dieser Kampfansage niemand zufriedengeben wollte, dichtete er einen seitenlangen Epilog in Prosa, in dem Eliza einen Blumenladen eröffnet, ihren Bewunderer Freddie heiratet und mit Higgins und Pickering aufs freundschaftlichste verbunden bleibt.
Shaw schrieb das Stück Anfang der 1910er-Jahre in der Blütezeit der Suffragettenbewegung, für die er selbst als politischer Aktivist eintrat. In diesem Kontext liest sich das Stück als Aufruf an die feinen Damen im Publikum, sich ihrer Unmündigkeit bewusst zu werden, der gewähltesten Aussprache zum Trotz. Auch dass Liza ausgerechnet Blumen verkauft, weist in diese Richtung: «Brot und auch Rosen» war ein wichtiger Slogan der angloamerikanischen Frauenrechtsbewegung, der nicht nur das Recht auf Unterhaltssicherung, sondern auch auf Bildung und Schönheit forderte. Immerhin vier Jahre nach der Londoner Premiere von «Pygmalion» erhielten englische Frauen über 30 Jahren 1918 das Wahlrecht.
Dennoch ist «Pygmalion» nicht nur ein Stück über die Unterdrückung von Frauen, der Sozialist Shaw führt die ganze Absurdität des Klassendenkens vor: Professor Higgins verdient sein Geld damit, reichen Aufsteiger*innen aus der Unterschicht, die ihrem Vermögen angemessene Ausdrucksweise beizubringen. Dabei zeichnet Shaw ihn als jemanden – auch das kommt in «My Fair Lady» zu kurz –, der diese Gepflogenheiten, vom Dialekt einmal abgesehen, selbst gar nicht befolgt: er flucht, kleckert und behandelt alle – so rühmt er sich selbst gegenüber Liza –, ganz gleich welcher Herkunft, mit derselben derben Unhöflichkeit. Keines der Insignien des Standesdünkels ist also auf Herkunft, auf Identität zurückzuführen, sondern auf Äußerlichkeiten, Training und die gesellschaftliche Übereinkunft, wem Privilegien, wem Einkommen und Kapital gebühren.
Katrin Michaels
Das Programmheft zu «Pygmalion» ist erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als gekürzte Onlineversion zum Download hier.