EINSPRUCH!
«Ein Anscheinsbeweis (prima-facie-Beweis) liegt vor, wenn ein Sachverhalt nach der Lebenserfahrung auf einen bestimmten (typischen) Verlauf hinweist. Dann kann von einer feststehenden Ursache auf einen bestimmten Erfolg oder von einem feststehenden Erfolg auf eine bestimmte Ursache geschlossen und die Behauptung für bewiesen angesehen werden.»
Dieses Phänomen wird Theatergeschichte schreiben: Ein neues Stück von einer weithin noch unbekannten Autorin mit einem lateinischen Titel gilt als das Stück der Stunde und wird momentan in vielen Städten auf der Welt gleichzeitig gespielt – ein Monodrama mit einer klaren Botschaft und mit einer großartigen Rolle für eine junge Schauspielerin.
Die Protagonistin trägt einen sprechenden Namen. Der Vorname Tessa kann «die Jägerin» bedeuten, und mit dem Nachnamen Ensler setzt die Autorin Suzie Miller der Dramatikerin Eve Ensler ein literarisches Denkmal, deren Stück «Vagina Monologe» aus den 1990er-Jahren auf 200 Interviews mit Frauen basierte und ein realitätsnahes Abbild der weiblichen Sexualität zeichnete. Ohne Tabus erzählt es von weiblichem Begehren und Lust, aber auch von sexuellem Missbrauch und Gewalt. Eve Ensler ist noch immer aktiv, unter anderem als Mitinitiatorin der Bewegung «One Billion Rising», die jährlich am Valentinstag weltweit Protestaktionen organisiert, um auf die allgegenwärtige Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen.
Suzie Millers Stück, das 2019 uraufgeführt wurde, ist ebenfalls realitätsnah, fußt es doch auf den Erfahrungen, die die australisch-britische Autorin in ihrem früheren Leben als Menschenrechtsanwältin gemacht hat und die Essenz von Hunderten Verhandlungen ist, an denen sie selbst mitgearbeitet hat. Ihre Mission besteht darin, darauf hinzuweisen, wie wenig das Rechtssystem – in wahrscheinlich allen Teilen der Welt – Opfer von Vergewaltigungen schützt. Im Englischen gibt es mit «Rape Culture» dafür einen eigenen Begriff: «Gemeint ist eine Gesellschaft, in der sexuelle Gewalt zwar weit verbreitet ist, aber von vielen Menschen nicht als solche gesehen wird: Opfern wird generell misstraut oder die Schuld zugeschoben, indem Täter geschützt und Vorfälle heruntergespielt werden. Wer ‹Vergewaltigungsmythen› googelt, findet viele dieser tief verwurzelten Denkweisen. Es ist, als würde man demjenigen, der bei der Feuerwehr anruft, weil seine Wohnung brennt, sagen: Es ist aber auch ein komisches Hobby, brennende Kerzen auf Bäume zu stecken», so Margarete Stokowski.
«Prima Facie» ist kein Dokumentartheater, sondern Fiktion – und dramaturgisch klug gebaut. Suzie Miller zeichnet ihre Protagonistin nicht von Anfang an als Opfer. Wir lernen Tessa Ensler als eine ehrgeizige junge Strafverteidigerin kennen, die mit allen Wassern des Gewerbes gewaschen zu sein scheint und den Namen «Jägerin» zu Recht trägt: Ihre Meriten verdient sie als Verteidigerin von Männern, denen sexualisierte Gewalt vorgeworfen wird – sie ist eine Meisterin darin, die Schwächen der Zeug*innen der Gegenseite raffiniert bloßzustellen. Nicht sehr sympathisch. Was uns für sie einnimmt ist die Tatsache, dass sie aus keiner privilegierten Familie stammt wie die meisten ihrer Kolleg*innen in der chicen Kanzlei, sondern sich durch Intelligenz und Willen die Eliteuni, den Job, eine schöne Wohnung in London selbst hart erarbeitet hat. Aber in nur einer Nacht wird sich ihr Leben um 180 Grad wenden.
Ein Drittel aller Frauen und Mädchen, so kann man nachlesen, also rund eine Milliarde Menschen weltweit, wurde bereits schon einmal geschlagen oder vergewaltigt. Ohne Chance auf Verteidigung, ohne Schutz durch das Gesetz. Mindestens jede vierte Frau erlebt einmal in ihrem Leben Gewalt in der Partnerschaft. Das Gefühl der Ohnmacht ist vorherrschend. Das bestätigte auch eine Gruppe junger Mädchen, die Nora Schlockers Probenarbeit am Residenztheater mit Lea Ruckpaul als Tessa Ensler begleitet hat.
Der Diskurs über das Thema wird zum Glück immer deutlicher hörbar. Die Anwältin Asha Hedayati nennt ihr lesenswertes Buch darüber, wie staatliche Stellen Frauen alleinlassen «Die stille Gewalt». Christina Clemm hat mit «Gegen Frauenhass» eine beeindruckende Streitschrift vorgelegt. Die feministische Philosophin Manon Garcia propagiert in ihrem Buch «Das Gespräch der Geschlechter» eine Philosophie der Zustimmung. Die katalanische Künstlerin Laia Abril widmet sich in ihrer umfassenden Recherchearbeit «On Rape – And Institutional Failure» dem Thema der strukturell ermöglichten Vergewaltigung.
Suzie Miller überträgt mit ihrem Stück «Prima Facie» die Diskussion über den Umgang mit Vergewaltigungsopfern auf die Bühne und hat mit dem gleichnamigen Buch auch ihren ersten Roman vorgelegt.
Almut Wagner
Textnachweise
Gunnar Groh: Anscheinsbeweis. In: Weber, Rechtswörterbuch. Verlag C.H.Beck, München 2022.
Margarete Stokowski: Die hässliche Wirklichkeit. In: taz, 12.Januar2013. Online unter: taz.de/Rape-Culture/!5075574 (zuletzt aufgerufen am 4.Februar2024).