EIN SPIEL ZWISCHEN REALITÄT UND FIKTION?

Über Marion Siéfert und Matthieu Bareyres Stück «Daddy» und das Verhältnis von Theater- und Videospielen im digitalen Zeitalter.

«Bei DADDY spielst du mit deinem echten Körper. Das ist schließlich das Revolutionäre an diesem Spiel», erklärt der 27-jährige Julien der 13-jährigen Mara bei ihrem ersten Videoanruf. Was zunächst wie Science-Fiction klingt, wird in «DADDY» mit den Mitteln des Theaters für die junge Protagonistin zur schillernden Wirklichkeit. In Marion Siéferts Stück verschwimmen für Mara die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, bis sie in ein existenzielles Abhängigkeitsverhältnis gerät. Im Spiel eröffnet ihr der ältere Julien scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten, von denen andere nur träumen können. In der virtuellen Welt schlüpft sie in die Rollen von Hollywood-Schauspielerinnen, tritt in Wettbewerben gegen Rivalinnen an, um die Gunst des Publikums zu gewinnen, und entkommt dabei der Eintönigkeit ihres Alltags. Mara fasziniert in dieser Parallelwelt durch ihre authentische Spielweise. Mit jedem Schritt steigert sie ihren Wert, erlangt neue Fähigkeiten und rückt so ihrem Traum, eine gefeierte Schauspielerin zu werden, immer näher. «Hollywood ist tot, aber ‹Daddy› lebt. Und es ist für alle, die von einer perfekten Welt träumen: eine Welt, in der man glücklich sein kann, in der man seine Träume verwirklichen kann, egal, wer man ist. Unsere Welt ist Fantasie, vollkommene Fantasie. Das macht sie so stark», heißt es im Stück.


Das Spannungsfeld von Reichtum und Ruhm, Machtmissbrauch und sexueller Ausbeutung, das in «DADDY» verhandelt wird, entspricht keiner fernen Zukunftsvision, sondern zeigt eine Richtung auf, in die sich unsere digitalisierte Gesellschaft entwickelt. Virtuelle Güter wie digitale Kleidung, Ausrüstung und besondere Fähigkeiten, um in Spielen erfolgreicher zu sein, sind oft nur gegen Bezahlung erhältlich und eröffnen der Gaming-Industrie ein Milliardengeschäft. So kosten stylische Nike-Sneaker in Fortnite, dem in der Altersgruppe der 10- bis 17-Jährigen beliebtesten Online-Spiel, 1000 V Bucks (entspricht 8,99 €). Allein in Deutschland gaben Spieler*innen im Jahr 2022 beeindruckende 4,74 Milliarden Euro für solche In-Game-Käufe aus. Dabei sind Online-Spiele längst mehr als bloßer Zeitvertreib. So wie Mara in «DADDY» verbringt rund ein Drittel der Weltbevölkerung Zeit auf Gamingplattformen und nutzt die technischen Möglichkeiten, um mit Gleichgesinnten in mitreißende Abenteuer und realitätsferne Welten abzutauchen. Professionelle Gamer*innen erlangen durch Livestreams auf Plattformen wie Twitch oder YouTube globale Bekanntheit, während Tausende E-Sports-Fans ihre Idole in großen Arenen live dabei beobachten, wie sie in virtuelle Welten eintauchen und gegeneinander antreten. Als Reaktion auf diese Entwicklungen hat das IOC angekündigt, 2025 erstmals Olympische E-Sport-Spiele auszutragen.


Über die Uraufführung von «DADDY», die Marion Siéfert 2023 selbst am Pariser Odéon-Théâtre de l’ Europe inszenierte, schreibt die «New York Times», dass sie «den Zeitgeist und das Leben junger Menschen mit einer Mischung aus Leichtigkeit und kritischer Distanz beschreibt, wie es nur wenige schaffen». Mit ihren preisgekrönten und in Frankreich seit Jahren tourenden Produktionen wie «The Big Sleep» (2018), «jeanne_dark» (2020) und «Daddy» (2023) prägt die französische Autorin und Regisseurin das französische Gegenwartstheater wie kaum eine andere. Durch ihre künstlerischen Zugriffe findet sie das Theatrale in den Tiefen einer sich immer stärker digitalisierenden Wirklichkeit. Erstmals wird am Residenztheater ihr ebenso mutiges wie visionäres Schaffen als Autorin für ein deutschsprachiges Publikum präsentiert. Mit «Daddy» hält sie der Gesellschaft einen Spiegel vor und zeigt neben der Verführung durch das Digitale auch die verheerenden Folgen von Machtmissbrauch und sexuellen Übergriffen im Internet. Im scheinbaren Schutz der Anonymität entwickeln sich in öffentlichen Chats und sozialen Netzwerken verstärkt Dynamiken, bei denen Erwachsene gezielt Minderjährige mit sexuellen Absichten kontaktieren. In der Justiz wird bei solchen Kontaktaufnahmen von Cybergrooming gesprochen, ein immer häufiger auftretender Straftatbestand. Oft bahnen die Täter*innen den Kontakt zu ihren Opfern langsam an, indem sie Komplimente machen oder sich als aufmerksame Zuhörer*innen ausgeben.


Digitale Räume sind keine Demokratien, denn «wer ein soziales Netzwerk wie Instagram nutzt, betritt das Territorium eines multinationalen Konzerns. Diese digitalen Räume […] sind kontrollierte und zensierte Parallelwelten, reglementiert durch Nutzerchartas, die in Wahrheit weniger dem Schutz der Menschen dienen als der Marke, dem Ruf und den finanziellen Interessen des Unternehmens. Will man diese Räume betreten, bleibt nur die Zustimmung zu diesen Bedingungen – eine Wahlfreiheit existiert nicht. Entscheidungen sind undurchsichtig, alles ist auf Marketing und Selbstdarstellung ausgerichtet», schreibt Marion Siéfert.


Ilja Mirsky