«Wir arbeiten mit dem, was da ist.»
So beschreibt der Souffleur Thomas Rathmann die Grundprämisse seiner Arbeit mit den Schauspieler*innen. In Antonio Latellas Bearbeitung von «Cyrano de Bergerac» fehlt fast alles: Bühnenbild, Figuren und der gereimte Originaltext. Ist es Zufall, dass die Theatermacher*innen sich gerade jetzt, wo wir Sie, das Publikum so lange vermisst haben, mit dem Wesen des Mangels beschäftigen?
Warum geht es in «Cyrano de Bergerac» eigentlich so viel ums Theater, und warum wird andauernd vom Souffleur gesprochen? Ganz konkret ist das erst einmal die Rolle von Cyrano im Originalstück: Er traut sich wegen seiner großen Nase nicht, seiner Angebeteten seine Liebe gestehen, und schickt jemanden anderen vor, jemanden der besser aussieht. Dieser jemand macht das auch gern, denn er findet die Angebetete auch toll – aber er weiß gar nicht, wie er das ausdrücken soll. Und so schreibt Cyrano ihm zuerst die Briefe vor, lernt mit ihm Text, und flüstert ihn im entscheidenden Moment in der Balkonszene die richtigen Worte zu. Er ist also Autor und Souffleur in einer Person. Wer würde sich so jemanden nicht wünschen, der oder die einem oder einer im richtigen Moment die richtigen Worte zuflüstert? Wie diese Tätigkeit sich im Theateralltag konkret gestaltet, können Sie im Gespräch mit dem Souffleur Thomas Rathmann und dem Schauspieler Vincent Glander im Programmheft zu «Cyrano de Bergerac» nachlesen.
In der «Bearbeitung für zwei Einsamkeiten» von Antonio Latella und Federico Bellini ist von dieser Grundanlage wenig übrig: Originaltext samt Reimen weg, angebetete Frau weg, Bühnenbild weg, Degen weg, Nase weg. Und über diesen Mangel geht es dann ganz wesentlich im Stück. Wie soll Cyrano irgendwas zustande bekommen – Reime, Romanze, Rampenlicht –, wenn doch fast alles fehlt? Cyrano beklagt sich, wälzt die Schuld auf andere ab, bemitleidet sich selbst und beschimpft die, die da sind. Ging es im vergangenen Jahr nicht vielen von uns so? Doch das ist nur die erste Hälfte des Stücks. Denn wenn auch nur zögerlich, erkennt er doch, dass er froh sein kann, über die Wenigen, die da sind – über den fabelhaften Mitspieler, das Publikum, den Souffleur, der ihm im entscheidenden Moment hilft.
Wie die Zeit der Pandemie unsere Arbeit prägt, ist im ersten Moment nicht offensichtlich und sie ist nicht immer bewusst. Vielleicht sind auch deshalb so viele Stücke so lang geworden, wie «Unsere Zeit» oder «Die Träume der Abwesenden». Erinnern Sie sich, wie viel es zu erzählen gab, als man lang Vermisste endlich wiedergesehen hat? Dieser Moment kam für uns als Theater später, als im echten Leben. Und in dieser langen Zeit des Vermissens, der Rat- und Tatlosigkeit der Krise hat sich der Blick geweitet. Und wir haben versucht, über Jahre und Jahrzehnte hinweg zu verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält und zu sprengen droht. Und was sich beruhigender Weise seit der Antike gar nicht geändert hat.
«Wir leben in einer Zeit, in welcher der Boden schwankt und die Fundamente beben. Ich kann keine Antwort geben für andere Zeiten und andere Orte. Vielleicht war es immer so. Wir wissen, dass es für heute stimmt.», schrieb der britische Psychiater Ronald Laing in den Sechziger-Jahren. Auch den Ausnahmezustand in einem historischen Kontext zu betrachten, das Eigene im längst Vergangenen zu spiegeln, ist eine Perspektive, die dem Theater eigen ist. Und vielleicht eine Rettung im Augenblick der Ratlosigkeit, weil jemand anders die Worte, die uns fehlen, wunderbarerweise bereits geschrieben hat.
Katrin Michaels