EINE FRAGE DER ETHIK
Erkan Ogurtan, Fachanwalt für Medizinrecht, schätzt im Gespräch mit Dramaturgin Katrin Michaels den Kernkonflikt von «Die Ärztin» juristisch ein.
Der britische Autor und Regisseur Robert Icke bearbeitete Arthur Schnitzlers «Professor Bernhardi» für seine eigene Produktion 2019 am Almeida Theatre in London. Bei den Evening Standard Theatre Awards 2019 wurde er dafür als bester Regisseur ausgezeichnet, die Hauptdarstellerin Juliet Stevenson mit dem Critics Circle Theatre Award als beste Schauspielerin, beide erhielten Nominierungen für den wichtigsten britischen Theaterpreis, den Laurence Olivier Award 2020. Im folgenden Jahr war die Produktion beim Adelaide Festival in Australien zu sehen. Eine Übernahme ins Londoner West End erfolgte 2022. Am Internationaal Theater Amsterdam (2021) und am Wiener Burgtheater (2022) brachte dasselbe künstlerische Team Adaptionen in der jeweiligen Landessprache und mit den Ensembles der jeweiligen Häuser heraus.
Die Grundsituation des Stücks ist dieselbe wie 1912 bei Arthur Schnitzler: Ein Priester verlangt zu einer jungen Patientin vorgelassen zu werden, die nach einem missglückten heimlichen Schwangerschaftsabbruch in Lebensgefahr schwebt – der Professor bzw. die Ärztin untersagt dies, woraufhin eine öffentliche Debatte über den Interessenskonflikt entsteht. Doch geht es hier wirklich nur um diesen Vorfall oder ist er bloßer Aufhänger eines schwelenden Verteilungskampfs im Kollegium des Instituts? Während sich der Fall bei Schnitzler nach und nach als antisemitische Intrige entpuppt, macht es Robert Icke seinem Publikum schwerer, sich für eine Seite zu entscheiden.
Wir sprachen mit dem Fachanwalt für Medizinrecht Erkan Ogurtan darüber, wie er den Kernkonflikt des Stücks juristisch einschätzt.
Katrin Michaels: Im Stück streiten eine Ärztin und ein Pfarrer um die Betreuung eines 14-jährigen Mädchens, deren Eltern nicht erreichbar sind. Wie sieht hier die Rechtslage aus?
Erkan Ogurtan: Zunächst mal ist wichtig, dass man weiß, dass Minderjährige auch «geschäftsfähig» sind, wenn es um medizinische Fragen geht. Der Gesetzgeber hat da einen netten Begriff eingeführt: die Einwilligungsfähigkeit, das ist die abgeschwächte Form der Geschäftsfähigkeit. Jeder, der einwilligungsfähig ist, kann medizinischen Behandlungen zustimmen oder sie ablehnen. Eine Person, die schwanger und im Krankenhaus ist, darf eigene Entscheidungen treffen, auch wenn sie minderjährig ist. Die Frage ist, was passiert, wenn sie keinen Willen mehr äußern kann. Diese Frage hat der Gesetzgeber nicht ganz einfach beantwortet. Wenn sie nicht vorher diese Entscheidungsgewalt einem Dritten übertragen (Vorsorgevollmacht) oder ihren eigenen Willen zu Papier gebracht (Patientenverfügung), darf niemand für sie entscheiden. Das behandelnde Personal muss dann spekulieren, was ihr mutmaßlicher Wille wäre. Deswegen sprechen Ärzte in Serien und in Filmen immer mit den Angehörigen. Das ist auch in der Wirklichkeit so. Aber nicht, um zu erfahren, was die Angehörigen wollen, sondern um aus den Erkenntnissen herzuleiten, was die betroffene Person will oder gewollt hätte. Was hätte sie in eine Patientenverfügung reingeschrieben? Ob der Pfarrer zu ihr darf, ist juristisch keine einfache Frage, weil der Pfarrer kein medizinisches Personal ist. Ein Besuchsrecht von sogenannten Dritten, also nichtmedizinischem Personal sieht das Gesetz nicht vor. Es handelt sich hierbei eher um eine moralische als eine juristische Frage. Wenn ein Rechtsbeistand den Pfarrer dennoch vertreten würde, bin ich mir ziemlich sicher, dass mit dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen der Patientin argumentiert würde.
Die Ärztin im Stück rechtfertigt sich damit, dass es dem Gesundheitszustand der Patientin schaden würde, wenn sie den Pfarrer zu ihrer Patientin lässt.
Die Ärztin darf natürlich Entscheidungen über die Behandlung treffen und die Patientin darüber aufklären, was medizinisch gut oder schlecht für sie ist. Aber für die Patientin entscheiden? Der Gesetzgeber hat sich bei dem Konstrukt des mutmaßlichen Willens auf medizinische Behandlungsfragen fokussiert. Das Besuchsrecht ist nicht ausdrücklich geregelt. Auch hier müsste meines Erachtens der mutmaßliche Wille ermittelt werden. Hat das medizinische Personal Zweifel am mutmaßlichen Willen, ist das Betreuungsgericht hinzuziehen. Das Gericht versucht dann anhand der bisherigen Lebensgeschichte, der Wertvorstellungen und unter anderem auch des Glaubens der Patientin den mutmaßlichen Willen festzustellen und trifft eine Entscheidung. All dies geschieht, um das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu schützen. Für die Patienten streitet hier aber auch das Grundrecht auf Glaubensfreiheit. Wenn es dem mutmaßlichen Willen der Patientin entspricht, müsste der Pfarrer meines Erachtens zu ihr gelassen werden. Das sind Situationen, die im Alltag praktisch und flexibel gelöst werden und nicht immer justiziabel sind.
Ein Aspekt des Konflikts ist einer der Diskriminierung: Spielt es eine Rolle, dass der Pfarrer Schwarz ist? Kennen Sie solche Fälle auch aus ihrer Praxis?
Ich persönlich habe Rassismus leider sogar einige Male selbst erlebt. Zum Beispiel als Junganwalt in einer meiner ersten Gerichtsverhandlungen. Der gegnerische Kollege, ein erfahrener Rechtsanwalt, fühlte sich angegriffen, weil ich da ein bisschen beharrlich agiert habe und sagte zu mir in der Gerichtsverhandlung «Deutsch? Deutsch verstehen?» Im Gerichtssaal. Vor der Richterin. Bevor ich mich auf das Medizinrecht spezialisierte, hatte ich auch viele Fälle, bei denen Diskriminierung eine Rolle gespielt hat. Jetzt aktuell im Medizinrecht erlebe ich das nicht.
Könnten Sie sich vorstellen, eine Seite in diesem Fall zu vertreten?
Es bestehen meines Erachtens auf beiden Seiten keine justiziablen Ansprüche. Der Fall spielt sich meines Erachtens genau an der Grenze zwischen der Rechtsordnung und ethischen Fragen ab. Wenn beispielsweise die Eltern später behaupten, dass der größte Wunsch ihrer Tochter gewesen wäre, die Sakramente zu empfangen, ist das nur ein Indiz für den mutmaßlichen Willen. Die Patientin war nicht bei Bewusstsein, sie hat das gar nicht mitgekriegt und konnte sich selbst nicht äußern. Die Vertretung der Ärztin wäre interessant, weil es spannend ist, wie die Absage an den Pfarrer juristisch begründet wird. Ich weiß jetzt nicht, was in dem ganzen Stück tatsächlich passiert und was von der Intention der Ärztin offenbart wird. Aber wenn es tatsächlich der Schutz der Patientin war und sie jetzt durch ein Missverständnis an den Pranger gestellt wird, als Rassistin, dann vertrete ich die Ärztin hier gern.
Mehr zum Stück und das komplette Gespräch mit Erkan Ogurtan finden Sie im Programmheft der Produktion. Das Programmheft ist erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als gekürzte Onlineversion zum Download hier.