DER MENSCH IST ZUR FREIHEIT VERURTEILT

AUSZUG AUS EINEM GESPRÄCH MIT ELSA-SOPHIE JACH

 

Jean-Paul Sartres «Die Fliegen» wird heute selten gespielt, weil es unmittelbar mit seiner Entstehungszeit verbunden ist. Sartre hatte Aischylos’ antike Trilogie der «Orestie» vor dem Hintergrund der deutschen Besatzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg überschrieben und unter Einbeziehung seiner existenzialistischen Philosophie auch radikal umgedeutet. Was reizt dich daran, dich gerade jetzt mit diesem Stoff auseinanderzusetzen?

In erster Linie weil dieses Stück für unsere Zeit gerade wieder sehr aktuell und relevant geworden ist. Das beginnt schon mit der Grundsituation. Typisch für antike Tragödien wie die «Orestie» ist ja, dass ein Individuum mit einer ausweglosen Situation konfrontiert wird, worin dann die ganze Tragik des Menschseins gespiegelt wird. Das Spannende bei Sartre ist, dass er zwar die gleiche Ausgangssituation wählt, darüber aber eine gegenteilige These aufstellt: Selbst in der hoffnungslosesten Situation ist der Mensch niemals Opfer oder Spielball der Götter, sondern er besitzt bis zu seinem Ende die Freiheit zu handeln. Elektra und Orest erlangen diese Erkenntnis im Verlauf des Stückes auf schmerzhafte Art und Weise und müssen sich dann den daraus folgenden Konsequenzen stellen. Denn für Sartre ist es die Pflicht des Menschen, seine Freiheit auch in scheinbar ausweglosen Situationen noch zu nutzen und sich einer Gesellschaft gegenüber zu verhalten. Das ist natürlich eine radikale und schwer erfüllbare Forderung. Eine wichtige Rolle spielt bei ihm auch, wie dieses Verhalten dann aussehen könnte und welche Mittel erlaubt sind. In Summe werden in den «Fliegen» also auch Themen wie Widerstand, die Anwendung von Gewalt und Tyrannenmord verhandelt. Sartre stellt diese Fragen natürlich für seine Zeit, gleichzeitig fordert er aber auf, sein Stück als eine Folie zu benutzen und es im Hinblick auf eine andere Zeit  immer wieder neu zu untersuchen.

 

Und für welche Folie hast du dich entschieden?

Bei dem Thema Klimawandel steht man ja auch vor der Frage, ob man als Individuum überhaupt noch etwas tun kann, weil sich dieser möglicherweise nicht mehr aufhalten lässt. Oder heißt das im Umkehrschluss sogar viel mehr, dass man gerade jetzt etwas tun und sich eindeutig dazu verhalten muss. Diese Forderung ist im Moment sehr aktuell, auch weil die lange Zeit eher altmodisch gewordene Frage nach der Verantwortung von einer jüngeren Generation gerade wieder sehr präsent formuliert wird. Vor allem Sartres Diktum, dass der Mensch zur Freiheit verurteilt ist, finde ich für unsere Zeit besonders relevant, weil es bedeutet, dass man trotz aller Widrigkeiten die Freiheit und auch die Verpflichtung hat, zu handeln. Gleichzeitig formuliert er in der Figur des Orest auch, wie schwer es ist, eine größere politische Problematik als Teil seiner selbst greifbar zu machen, anstatt sich nur als losgelöstes, schwebendes Teilchen in einer überwältigend schnelllebigen und ortlosen Gegenwart wahrzunehmen. Darum lässt sich dieses Stück außerordentlich gut für unsere heutige Zeit lesen.

 

Du hast gerade gesagt, dass das Thema Klimawandel in deiner Inszenierung eine ganz entscheidende Rolle spielt. Vielleicht kannst du diese Setzung noch etwas ausführen.

Sartre selbst hat vor dem Hintergrund des Abwurfs der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki durch die US-Streitkräfte im Jahr 1945 die These aufgestellt, dass, wenn die Menschheit auch in Zukunft auf diesem Planeten fortleben sollte, dies eine aktive Entscheidung benötigt, weil sie nun auch über die Mittel zu ihrer Zerstörung verfügt und ein einfaches «Weitermachen» deshalb nicht genügt. Er fordert – sehr heutig – zur Zeugenschaft mit dieser «unterhöhlten Erde» auf. Jede*r von uns muss sich mit diesem Thema auseinandersetzen – und selbst wer sich dem verweigert, entscheidet sich ja auch ganz bewusst dagegen. Diese Unausweichlichkeit ist der eine Grund, der andere ist, dass daran viele andere Problematiken gekoppelt sind: das ausbeuterische kapitalistische System im Hinblick auf die Umweltzerstörung zum Beispiel, genauso aber auch die damit verbundenen fatalen Machtstrukturen. Es lassen sich über diesen Themenkomplex also nicht nur Fragen nach einer ökologischen, sondern genauso nach einer gesellschaftlichen und politischen Verantwortung verhandeln. Außerdem ist der Klimawandel auch Spiegel für einen grundlegenden Generationenkonflikt - und hier liegt dann auch die Parallele zu Aischylos’ «Orestie». Bei beiden geht es um die Frage: Was tun, wenn eine Generation eine Schuld hinterlässt, mit der nicht mehr umzugehen ist? Was passiert, wenn so viele Schulden aufgehäuft wurden, dass nachfolgende Generationen gar keine Chance mehr haben, sich eine eigene Zukunft aufzubauen?

 

Du hast gerade den in der «Orestie» entscheidenden Begriff der Schuld erwähnt. Bei Sartre sind die Fliegen eine Metapher für eine zurückliegende Schuld – gesandt von den Göttern als Strafe für den Mord Klytämnestras und Ägisths an Agamemnon. Was sind die Fliegen bei dir?

Wir haben uns natürlich gefragt, was die Fliegen im Stück auf einer ganz bildlichen Ebene heute sein könnten. Es gibt diverse Studien, die zeigen, dass es bei weiter steigenden Temperaturen zu regelrechten Fliegen- und Mückenplagen kommen wird. Bei Sartre wird Orests Heimatstadt Argos als zerstört und verwahrlost beschrieben, fast wie eine Müllkippe. Dass darüber dann die Fliegenschwärme herfallen, hat viel mit Bildern unserer heutigen Welt zu tun. Als real mögliche Konsequenz der Umweltzerstörung, aber auch als Symbol für die eigene Bequemlichkeit. Die menschliche Schuld an der Ausbeutung der Natur ist zwar vielen bewusst, führt aber trotzdem nicht zum Handeln, weil es einfacher ist zu sagen: Ich kann ja jetzt eh nichts mehr tun, also lasse ich es mir noch ein paar Jahrzehnte gut gehen. Sartres Hintergrund war natürlich ein komplett anderer, weil er die Bilder der Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg im Kopf hatte. Für mich war aber die Analogie zwischen diesen beiden von Menschen gemachten Zerstörungen sehr einleuchtend. Das Stück als eine dystopische Vision unserer Zukunft zu begreifen und darin eine Gesellschaft zu zeigen, die in ihrer Schuld verharrt und diese ständig als Entschuldigung dafür benutzt, sich ihrem Schicksal zu fügen und nichts zu verändern.

 

Sartres Philosophie des Existenzialismus ist ja sehr zukunftsgerichtet, weil er der Meinung ist, dass das Handeln jedes Einzelnen von uns die Zukunft aller bestimmt und beeinflusst. Für Sartre sind Resignation oder Fatalismus darum auch nur Ausreden, denn jede*r, der nichts tut, will auch keine Veränderung. Teilst du seine Ansicht?

Ich würde Sartre dahingehend zustimmen, dass Nichtstun keine Alternative ist. Interessant ist, dass es bei der im Stück eingeschriebenen Forderung sich zu verhalten, im Grunde gar nicht darum geht, alles richtig zu machen, sondern dass es viel wichtiger ist, sich im Hinblick auf das Gemeinwohl aktiv einzubringen, sich solidarisch mit den Schwächsten der Gesellschaft zu zeigen und Stellung zu beziehen. Wenn man Sartres Vorgaben also als eine Philosophie der kleinen Schritte auffasst, ist das zwar keine unbedingt einfache Aufforderung, nämlich eine zum stetigen Handeln, aber eine, die uns Mut machen kann, weil kleine Schritte zu mehr Erfolgserlebnissen führen. Gerade jetzt und angesichts all der überwältigenden Probleme weltweit ist das ein Gegenprogramm zu der von vielen erlebten Frustration.

 

Das komplette Interview finden Sie im Programmheft der Produktion.


Das Programmheft zu «Die Fliegen» ist erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als gekürzte Onlineversion zum Download hier.