VOM FEHLEN DER ANDEREN ORTE

VON EWALD PALMETSHOFER

ZUM ANHÖREN: TAGEBUCH EINES GESCHLOSSENEN THEATERS #129

Am 11. März 2020, also vor genau einem Jahr, musste das Residenztheater zum ersten Mal pandemiebedingt seine Türen für das Publikum schließen. Nach über einem Jahr Leben mit Covid-19 stehen wir nun an der Schwelle zwischen Lockerungen und einer möglichen dritten Infektionswelle. Und immer deutlicher wird, was in dieser schwierigen Zeit der physischen Distanz, der Existenzunsicherheit, der Entbehrungen und auch der Trauer so dringend fehlt. Es fehlen nicht zuletzt die öffentlichen Orte, an denen das geschehen kann, was nicht Teil des Notwendigen, der Bewältigung des Alltags, der täglichen Sorgen, der Ermüdung, der häuslichen Pflege oder Erziehung, der kräfteraubenden Aufrechterhaltung des gerade noch Möglichen ist. Es fehlen die gemeinsamen Orte des Spiels (ob Turnhalle oder Sportplatz), der abendlichen Zerstreuung, der Unterhaltung, Entgrenzung und Zügellosigkeit, die Orte des Tanzens, Flirtens und einander körperlich Näherkommens (ob Bar, Kneipe oder Disko, Club, Wirtshaus oder Spelunke). Es fehlen die Orte des ungezwungenen Gesprächs, der Zwischentöne, des Witzes, die Orte der Debatte und der gemeinsamen inhaltlichen Durchdringung, der Lehre und Bildung (ob Kaffeehaus, Hörsaal, Volkshochschule oder Foyer) und die Orte der Betrachtung künstlerischer Hervorbringungen (im Theater, Museum, Kabarett, in der Oper, der Konzerthalle).

Vielleicht könnte man – in Anlehnung an Michel Foucault – diese Orte auch «Heterotopien» nennen. Denn genau das sind sie – Orte des anderen, oder: «Ander-Orte». An all diesen Orten erfahren wir das ANDERE, das andere an uns und das andere der anderen. In diesem Sinne, wären «Ander-Orte» öffentliche Begegnungsräume, an denen die vordergründig nicht «systemrelevanten» Vollzüge unseres geteilten Menschseins stattfinden. Es sind dies die unzähligen Akte, in denen wir in immer wieder anderen Konstellationen zusammenkommen und uns anders erfahren, andere und anderes erleben, uns und einander als anders erleben. Das Fehlen der Erlebnisräume des anderen trifft uns im gleichen Bedürfnis, mit anderen über uns hinauszugehen. Und mehr noch: Diese Heterotopien spannen ein Netz der Öffentlichkeit auf, durchziehen den Raum mit Routen des Transits und Orten der Begegnung. Sie sind – in all ihrer Unterschiedlichkeit – der jeweilige lokalisierte Sitz von Öffentlichkeit. Es gibt keine Öffentlichkeit ohne eine Vielzahl jener Orte, an denen Menschen einander physisch begegnen und verweilen können. Öffentlichkeit bedeutet, sich auf andere und anderes hin zu öffnen, aus der Enge des eigenen Ichs, dem Radius von ein bis zwei Haushalten, auf den wir uns seit Monaten aus gutem Grund beschränken, herausgerissen zu werden. Aus Privatiers werden Bürger*innen einer geteilten, demokratischen Öffentlichkeit. Das Politische findet nicht bloß in den Räumen demokratischer Institutionen statt, sondern – unverzichtbar – auch ganz konkret in den Begegnungszonen dieser Ander-Orte.

«... in immer wieder anderen Konstellationen zusammenkommen und uns anders erfahren, anderes erleben, uns als anders erleben.»

Vielleicht kann man sagen, dass die Coronapandemie zu einem «Schock des Globalen» geführt hat: Während sich die unterschiedlichen Erfahrungen der Globalisierung zum Ende des vergangenen und in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends schleichend vollzogen haben und die zukunftsentscheidende Dringlichkeit der globalen Klimakrise erst nach und nach deutlich wurde, hat Covid-19 innerhalb von Wochen die globale Welt als das gezeigt, was sie ist: ein einziger, von uns allen bewohnter, bis in die kleinste molekulare Ebene hinein verwobener Lebensraum – unentrinnbar der einzige, den es gibt. Und so stehen wir am Beginn einer notwendigen neuen Öffentlichkeit, in der den drängenden Zukunftsfragen unseres global geteilten Menschseins unaufschiebbar begegnet werden muss.

Schon seit einem Jahr drückt sich Öffentlichkeit auf andere, besondere Weise aus. Um Leben zu schützen, nimmt sie ihre räumliche Gestalt weitgehend zurück, verortet sich vermehrt im Virtuellen, praktiziert Reduktion der Begegnungen und physische Distanz. Es ist dies ein gemeinsamer solidarischer Kraftakt geteilter Verantwortung, dessen Wert nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Manchmal scheint es, als würden wir nach all den Monaten, in denen wir bewusst darauf verzichten haben, einander an den Orten des anderen zu begegnen, nur noch ermüdet sein. Wie notwendig aber wäre es, die Erfahrung dieser gesellschaftlichen Wirksamkeit zu bewahren und ihr Zukunftspotenzial nicht aus dem Blick zu verlieren! Denn es wird dieselbe Öffentlichkeit sein, die – sobald sich der Würgegriff der Pandemie gelockert hat – nach gemeinsamen Lösungen wird suchen müssen, um die Welt als Lebensraum alles Lebendigen zu bewahren und allen Menschen gerechte Teilhabe zu ermöglichen. Es ist zu hoffen, dass all die öffentlichen Ander-Orte dabei eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielen werden, als lokale Begegnungs- und Möglichkeitsräume einer neuen, kommenden Öffentlichkeit.