Marieluise Fleißer
Marieluise Fleißer schrieb zeitlebens unter Einsatz ihrer eigenen Biografie. Auf Bitten nach einigen Lebensdaten legte sie einen schonungslosen Lebensbericht vor. Neben Veröffentlichungen und Uraufführungen ihrer Werke spart sie darin weder ihr Privatleben noch ihre seelischen Zustände aus. Ihr schwieriges Verhältnis zur Geburtsstadt Ingolstadt nimmt einigen Raum ein. Sie schildert sowohl ihr Verhältnis zu Bertolt Brecht, als auch das Martyrium ihrer Ehe mit dem Tabakwarenhändler und Sportschwimmer Josef (Bepp) Haindl, das sie in «Mehlreisende Frieda Geier», später unter dem Titel «Eine Zierde für den Verein. Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen» revidiert erschienen, verarbeitet. In diesem, ihrem einzigen Roman, schildert sie auch ihre eigenen Erfahrungen mit den sozialen und politischen Unruhen zur Zeit der Wirtschaftskrise zum Ende der Weimarer Republik. Während Marieluise Fleißer lange auf Anerkennung warten musste, klingt zum Ende der 1972 von ihr verfassten Notizen an, dass ihr schmales Œuvre, von Rainer Werner Fassbinder, Franz Xaver Kroetz und Martin Speer wiederentdeckt, eine Renaissance erlebte. Elfriede Jelinek bezeichnete sie als «die größte Dramatikerin des 20. Jahrhunderts».
Aus ihren eigenen Schilderungen ist folgende redigierte «Zeittafel» entstanden, die einen Überblick auf das Leben der «Fleißerin» aus ihrer Sicht gibt.
1901
Marieluise Fleißer wird am 23. November in Ingolstadt geboren.
1907
Eintritt in die Volksschule. Zwei Jahre später Übertritt in die Töchterschule.
1914
geht sie nach Regensburg in das Mädchengymnasium.
1917
liest sie heimlich die Romane von Strindberg.
1920
im Sommer Abitur. Immatrikulation an der Ludwig-Maximilians-Universität in München; hauptsächlich Theaterwissenschaft bei Arthur Kutscher.
1922
lernt sie Lion Feuchtwanger kennen. Sie sieht in den Kammerspielen «Trommeln in der Nacht» von Bertolt Brecht.
1923
«Meine Zwillingsschwester Olga» (späterer Titel «Die Dreizehnjährigen»).
«Meine Freundin, die lange». Erzählungen.
1924
Anfang des Jahres beginnt sie, heimlich ein Stück zu schreiben, dem sie später den Titel «Die Fußwaschung» gibt.
März: Brecht lässt sie auffordern, zur Generalprobe vom «Leben Eduards des Zweiten» in die Kammerspiele zu kommen.
Ende 1924: Rückkehr nach Ingolstadt.
1925
«Abenteuer aus dem Englischen Garten». Erzählung
1926
25. April: Uraufführung von «Fegefeuer in Ingolstadt» (früherer Titel «Die Fußwaschung») durch Moriz Seeler, Junge Bühne, im Deutschen Theater Berlin.
Sie erhält einen kleinen Rentenvertrag von Ullstein. Im Frühsommer und Herbst besucht sie Brecht öfter in Augsburg, beginnt nach seiner Anregung mit der Arbeit an ihrem Stück «Pioniere in Ingolstadt». Bereits am 12. Dezember Vertrag mit den Münchner Kammerspielen über das Stück. Eine geplante Aufführung kommt nicht zustande.
1927
Anfang Januar geht sie nach Berlin, wo sie sich bis zum Sommer im Kreis Feuchtwanger–Brecht aufhält. Geht dann für einige Monate nach Kolberg, kehrt Anfang November nach Ingolstadt zurück. Intensivierung der Beziehung zu Josef Haindl, Sportschwimmer und Geschäftsmann in Ingolstadt. Beendet die «Pioniere».
1928
25. März: Uraufführung der Pioniere an der Komödie Dresden durch Renato Mordo. «Ein Pfund Orangen». «Die Ziege». Erzählungen.
Verlobung mit Josef (Bepp) Haindl.
1929
30. April: Aufführung der «Pioniere» am Theater am Schiffbauerdamm in Berlin. Ein vorbereiteter Theaterskandal mit politischem Hintergrund. Scharfer Protest gegen das Stück auch aus Ingolstadt.
Der Vater erteilt ihr Hausverbot.
April: Bruch mit Brecht.
Juli/August: Schwedenreise und Verlobung mit Hellmut Draws-Tychsen, Redakteur der Berliner Börsen-Zeitung.
Herbst 1929/Anfang 1930 «Der Tiefseefisch». Drama.
1930
dreimonatige Reise mit Draws nach Andorra. Rentenvertrag für ein Jahr mit dem Gustav Kiepenheuer Verlag. Sie schreibt die «Mehlreisende Frieda Geier».
1931
erscheint die «Mehlreisende Frieda Geier».
1932
Geldsorgen. Sie schreibt noch ein paar weitere Berichte für das Buch «Andorranische Abenteuer», das im Herbst im Kiepenheuer Verlag erscheint. Nervenkrise und missglückter Selbstmordversuch.
Im Herbst kehrt sie nach Ingolstadt zurück.
1933
Mai/Juni: wieder in Berlin.
Ende Juni: Rückkehr nach Ingolstadt.
Aus diesem Jahr sind nur die Erzählungen «Frigid» und eine erste Fassung von «Schlagschatten Kleist» erhalten. Auflösung der Verlobung mit Draws.
1935
Heirat mit dem früheren Verlobten, Sportschwimmer und Tabakwarengroßhändler Josef (Bepp) Haindl. Sie muss im Geschäft mitarbeiten. Ihr Roman «Mehlreisende Frieda Geier» und ihr Stück Pioniere in Ingolstadt werden auf die «Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums» gesetzt und sind damit verboten.
1937
erste Fassung von «Karl Stuart». Drama.
1938
August: Nervenzusammenbruch durch Arbeitsüberlastung.
1943
Kriegseinsatz als Hilfsarbeiterin. Infolge der Überlastung treten wieder nervöse Störungen auf. Es gelingt ihrem Mann, sie vom Kriegseinsatz zu befreien.
1944
beendet sie «Karl Stuart».
1945
ihr Mann kehrt herzkrank und abgemagert aus dem Krieg zurück.
«Der starke Stamm». Drama.
1949
«Er hätte besser alles verschlafen». «Das Pferd und die Jungfer». «Des Staates gute Bürgerin». Erzählungen.
1950
Wiedersehen mit Bertolt Brecht bei den Proben von «Mutter Courage» an den Kammerspielen München.
«Der starke Stamm» wird von Schweikart für die Kammerspiele angenommen. Rundfunk und Fernsehen werden aufmerksam.
1951
Preis vom Kuratorium der Stiftung zur Förderung des Schrifttums.
1952
sie muss ihrem Mann im Geschäft helfen und findet keine Zeit zum Schreiben.
Erster Preis im Erzählwettbewerb des Süddeutschen Rundfunks für «Das Pferd und die Jungfer».
1953
Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.
1956
Begegnung mit Brecht in Ostberlin. Der Plan, in die Nähe Brechts nach Ostberlin zu ziehen, wird nicht in die Tat umgesetzt.
Wird ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.
1958
stirbt ihr Mann.
15. Januar: sie erleidet einen Herzinfarkt. Man glaubt nicht, dass sie ihn übersteht.
Sie löst das Geschäft ihres Mannes auf.
1961
23. Dezember: erste Verleihung des neueingerichteten Kunstförderungspreises der Stadt Ingolstadt an Marieluise Fleißer.
1963
«Avantgarde». Erzählung.
1964
«Der Rauch». Erzählung.
1965
«Die im Dunkeln». Erzählung.
Förderungspreis des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie.
1966
«Der starke Stamm» wird an der Schaubühne am Halleschen Ufer aufgeführt.
Zwei Monate in der Villa Massimo. Sizilienreise. «Der Venusberg». Erzählung.
1967
sie beginnt, wieder an den «Pionieren in Ingolstadt» zu arbeiten, die sie 1926 schrieb.
1968
der Suhrkamp Verlag nimmt das «Stück Pioniere in Ingolstadt» an.
1970
1. März: Uraufführung der neuen Fassung «Pioniere in Ingolstadt» am Residenztheater München.
1971
30. April: Uraufführung der neuen Fassung «Fegefeuer in Ingolstadt» an den Wuppertaler Bühnen.
R. W. Fassbinder bearbeitet die «Pioniere in Ingolstadt» für das Fernsehen.
1972
die «Gesammelten Werke» erscheinen im Suhrkamp Verlag.
1973
Aufnahme in die Akademie der Künste Berlin.
1974
2. Februar: Marieluise Fleißer stirbt in Ingolstadt.
Wir danken dem Suhrkamp Verlag herzlich dafür, die Zeittafel verwenden zu dürfen.
Textauszug aus: Marieluise Fleißer: Eine Zierde für den Verein. Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen. Suhrkamp Verlag, Berlin 1975. Alle Rechte vorbehalten.