IN EINER WELT VON LEBENSLÜGEN

Henrik Ibsen verhandelt in seiner Familientragödie «Die Wildente» die Verantwortung der älteren Generationen für die Jugend – und ihr Versagen darin. Der prominente Soziologe Heinz Bude, der sich in seiner Forschung intensiv mit dem Verhältnis der Generationen beschäftigt, beschreibt den Stoff des Dramas aus der Perspektive des «soziologischen Arztes».
 

Von Freud, dem Ibsen vorausgegangen ist, stammt der Gedanke, dass der Ursprung des Gesellschaftsgefühls in der Familie liegt. Nachdem das Kind entdeckt hat, dass es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen einer mütterlichen und einer väterlichen Position und zwischen Kindern und Eltern gibt, fragt es sich, welche Rolle ihm selbst dazwischen zukommt. Es übt sich im Verführen und erträumt sich als Held, der sich allein in fremden Welten durchschlägt. Aber das Kind muss realisieren, dass es keinen der beiden Elternteile ganz auf seine Seite ziehen und dass es das Alleinsein nicht aushalten kann. Ödipus muss sich fürs Erste geschlagen geben.

Für Freud stellt diese bittere Erkenntnis eine notwendige Krise dar, die dem Kind vor Augen führt, dass es sich vertrösten muss, bis es selbst ein Liebespartner sein und selbst eine Familie gründen kann. In diesem Aufschub erfährt sich das Kind als Gesellschaftswesen, das für sich selbst eine Vorstellung seines eigenen Lebens jenseits der Familie entwickeln muss. Das Problem ist nur, wie ich herauskriege, was meine Geschlechtsrolle ist und in welcher Weise sich die von mir selbst gegründete Familie von der meiner Eltern unterscheidet. Freud spricht, als hätte er Ibsen gelesen, vom Familienroman des Kindes, in dem die kindlichen Phantasien über die Größe der Eltern, die Macht ihres Geschlechts und den Glanz ihrer Erscheinung aufgehoben sind. Dieser Familienroman stellt den gefühlten Hintergrund für unsere eigene Selbstwerdung dar. Schließlich bleibt man immer Kind seiner Eltern und ist nie nur Produkt seiner selbst.

Die Wildente steht im Zentrum des Familienromans, den Ibsen entschlüsselt. Sie wurde vom Direktor angeschossen, von dessen fabelhaft klugem Hund gerettet und wird jetzt auf dem Dachboden im Korb mit dem Stroh von der ganzen Familie so sehr gepflegt, dass sie das wilde Leben vergessen zu haben scheint. Aber die Wildente gehört Hedwig, dem einzigen Kind, das das Geheimnis dieses Tieres, das wie vom Meeresgrund geborgen wurde, bewahrt.

Um Hedwig herum suchen alle eine Lebensaufgabe, die ihnen bei aller Schmach, die sie zu erleiden haben glauben, ein Gefühl von Größe vermitteln soll. Der unglückselige Großvater spielt den Jäger des verlorenen Schatzes, der Vater will mit einer spektakulären Erfindung den Namen der Familie wieder zu Ruhm und Ansehen bringen und der verlorene Sohn des Direktors will die Wahrheit über die Machenschaften seines kalten Vaters, der ihn in eine ferne Einöde geschickt hat, im Dienste des Seelenheils seines Jugendfreundes an den Tag bringen. Irgendwann soll für alle diese Männer der Himmel aufgehen.

Hedwig, die wie eine Seherin ihr Augenlicht zu verlieren droht, ahnt, dass bei diesem verworrenen Komplott von männlichen Lebensaufgaben etwas nicht stimmt. Das Rechtschaffenheitsfieber, der Idealitätszwang, die Reklamierung einer Gewissenslast geben ihr zu denken. «Alles ist so sonderbar». Aber zugleich trennt sie ein Abgrund vom Lebensmodell ihrer Mutter, die für das Realitätsprinzip steht. Überhaupt machen sich die Frauen um den Direktor nichts vor. Sie gewinnen Handlungsmacht, indem sie dem Unmöglichen entsagen, das Mögliche wahrnehmen und das Nötige machen. Die Mutter fasst ihre Erfahrung mit den Männern in der einfachen Feststellung zusammen: «Männer sind merkwürdig». Aber Hedwig will mehr als mütterlichen Lebenswillen und weibliches Anpassungsgeschick. Sie sucht nach einem eigenen Leben, in dem sie das Wünschen nicht dem Überleben opfern muss. Die Wildente birgt für sie das Versprechen, dass die Zeit stehen bleiben kann und trotzdem das Leben nicht zu Ende ist.
 

«Wer sich der Suche nach einer Lebensaufgabe hingibt, landet schnell bei der Lebenslüge.»
 

Damit steht sie zwischen Mutter und Vater. Vom Vater kommt der Hang zum Unmöglichen, von der Mutter der Sinn fürs Mögliche. Weil sie beides will, das Wünschen, das alle Maßen übersteigt und aus dem Todestrieb kommt, und das Sorgen, das sich den anderen zuwendet und dem Lebenstrieb entspringt, zerreißt es sie am Ende.

Ibsens Haltung zur Sache bringt der heruntergekommene Arzt zum Ausdruck, der so etwas wie der Soziologe in dem ganzen Drama ist. Wer sich der Suche nach einer Lebensaufgabe hingibt, landet schnell bei der Lebenslüge. Verdeckt das Reden über persönliche Entwicklung, emotionale Echtheit und moralische Hochgestochenheit nicht die «transzendentale Obdachlosigkeit» (Georg Lukács) einer Klasse, der das «Familienmotiv» bei der Weitergabe eines materiellen oder immateriellen Erbes von Generation zu Generation abhandengekommen ist? Das Gesellschaftsgefühl entsteht zwar in der Familie, aber es erschöpft sich nicht in den Familientragödien. Gesellschaften entwickeln sich nicht weiter, wenn die Jungen die Alten auffordern, «gute Vorfahren» zu sein. So wird Abarbeitung an den anderen nur zur Lebenslüge über das Eigene.
 

«Der ‹soziologische Arzt›, dem Ibsen das letzte Wort gibt, weiß über die ungeheure Kraft der Lebenslügen in einer Zeit, in der niemand etwas glaubt, aber alle recht haben wollen.»

Für Hedwig symbolisiert die Wildente das Versprechen auf ein freies Leben, das jede Generation für sich selbst entdecken muss. Die Problematik in der «Wildente» entsteht freilich dadurch, dass Hedwig der Besitz der Wildente von allen Seiten streitig gemacht wird. Die Wildente bindet nur, sie löst nichts. «Der Wald rächt sich», gibt uns der Großvater, der durch seinen unglücklichen Ruin die Misere verursacht hat, auf den Weg. Hedwig spürt die Lebenslügen um sich herum, aber ihr wird vor lauter Selbstbefindlichkeiten kein Raum für etwas Eigenes und Anderes gelassen. Sie erstickt gewissermaßen an der Verpflichtung, die ihr die Freiheit gegeben hätte.

Der «soziologische Arzt», dem Ibsen das letzte Wort gibt, weiß über die ungeheure Kraft der Lebenslügen in einer Zeit, in der niemand etwas glaubt, aber alle recht haben wollen. Wenn alles vertan ist und keiner mehr weiter weiß, siegt am Ende doch immer die Rührung, die Eigenliebe und das Selbstmitleid. Auf die Frage, wie er solch schwierige Fälle zu kurieren gedenkt, antwortet er: «Ich verschreibe immer dasselbe. Mittel zur Stärkung der Lebenslüge.»

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Heinz Bude, geboren 1954, studierte Soziologie, Philosophie und Psychologie. Von 2000 bis 2023 war er Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel. Seine Arbeitsschwerpunkte sind neben der Makrosoziologie, Generations-, Exklusions- und Unternehmerforschung. 2016 erhielt er den Preis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit der Soziologie. Zu seinen Publikationen gehören «Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee» (2019), «Aufprall» (2020), gemeinsam mit Bettina Munk und Karin Wieland,  als Mitherausgeber das «Handbuch Öffentliche Soziologie» (2023) und «Abschied von den Boomern» (2024). Er lebt in Berlin.

 

Das Programmheft zu «Die Wildente» ist erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als gekürzte Onlineversion zum Download hier.