KEINE ANGST ZU TRÄUMEN

EIN GESPRÄCH MIT STEPHAN KIMMIG

William Shakespeares «Ein Sommernachtstraum» zählt nicht nur zu seinen bekanntesten Komödien, sie ist vielleicht auch seine abgründigste und vielschichtigste. Auch du warst vom ersten Lesen an sofort Feuer und Flamme. Was hat dich daran so «angezündet»?

Ich war von Anfang an unglaublich fasziniert, was für Welten Shakespeare darin aufmacht und in was für einen Schmerz und was für eine Lust seine Figuren hier hineingezogen werden. Dazu noch die Grenzüberschreitungen, die dem Stück eingeschrieben sind und die viel mit uns heute zu tun haben. Grenzüberschreitungen passieren ja, weil etwas nicht mehr richtig funktioniert, weil etwas schal geworden ist und sich leergelaufen hat. Wir leben in dieser kapitalistischen Blase und merken, wie die Welt um uns immer mehr zerbröckelt und beginnt, sich aufzulösen, auch weil sich nichts mehr wirklich fassen und greifen lässt. Bei Shakespeare werden die Figuren mit ihrem Innersten, mit ihren dunklen Seiten konfrontiert und verirren sich bei ihrer Ich-Suche. Vielleicht sollten auch wir uns wieder mehr unserer unbewussten Seiten stellen und keine Angst haben, zu träumen. Das war gerade in den 60er und 70er-Jahren eine große Triebfeder für Veränderungen und Erneuerungen. Daraus wurden Utopien entwickelt und Gesellschaft neu gedacht. Das alles steckt für mich in diesem Stoff. Es ist eine offene und spielerische Suche aller Figuren danach, was wir vielleicht noch alles sein können. Daraus entsteht ein wahnsinnig aufregender Kosmos.

 

Diese Vielschichtigkeit und Ambivalenz des Stoffes, die du gerade angesprochen hast, hat auch dazu geführt, dass der «Sommernachtstraum» nicht nur als Komödie, sondern oft sogar als Tragödie gelesen und inszeniert wird. Was ist das Stück für dich?

Ich würde sagen: sowohl als auch. Die Figuren «verspielen» sich oft, finden ihren Weg nicht, missverstehen sich oder verpassen sich ganz einfach. Wir lachen dann über diese Dinge, weil wir sie von uns selber kennen und sie selbst auch oft falsch machen. Aber neben dieser komödiantischen Ebene gibt es in dem Stück auch einen tiefsitzenden Schmerz und ein Empfinden darüber, ausgestoßen zu sein und nicht verstanden zu werden. Diese Tragik ist dem «Sommernachtstraum» sehr stark eingeschrieben.

 

Du hast zu Beginn schon die dunkle Seite in uns Menschen erwähnt, auch weil Shakespeare in seinem «Sommernachtstraum» seine Figuren genau damit konfrontiert. All die Triebe, Wünsche, Sehnsüchte, die sie tagsüber verbergen und unterdrücken, kommen in der Nacht umso stärker zum Vorschein. Shakespeare verlagert das Geschehen hierfür in den Wald, der bei ihm als Metapher für Archaik und die eigentliche Natur des Menschen steht. Ihr habt euch entschieden, ganz bewusst keinen Wald auf die Bühne zu stellen. Vielleicht kannst du kurz beschreiben, wie es dazu kam?

Vor allem wollten wir eine Umsetzung für das Jahr 2024 finden. Wir haben nach einem Ort gesucht, an den man sich heute zurückziehen würde, an dem aber genauso Begegnungen möglich sind. Zu Zeiten Shakespeares stand der Wald für Freiheit, weil zu Hause vieles verboten und reglementiert war. Gleichzeitig steht der Wald symbolisch für einen Ort, an dem man sich verlaufen kann, für ein Labyrinth. Shakespeare jagt die beiden Liebespaare auch deshalb in den Wald und lässt sie sich dort selbst verlieren, damit sie am Ende wieder zu sich selbst finden können. Unser gerodeter und wieder aufgeforsteter Wald heute hat nichts mehr Wildes, worin sich eine solche Geschichte erzählen und behaupten lässt. Dagegen entstehen seit einigen Jahren in vielen Innenstädten durch Pleiten und Verfall immer mehr Brachen, innerstädtische Leerstellen, die oft viel mehr Wildnis sind als unser Wald. Eine Bauruine oder ein leeres Kaufhaus zum Beispiel wären heutige Übersetzungen eines solchen Labyrinths, weil niemand die verschiedenen Räume darin wirklich überblickt. Für uns war es wichtig einen Ort zu finden, der eine Stadtrealität herstellt, an dem aber auch Shakespeares Elfen und Geister hausen können. Diese Geisterwelt ist ja fester Bestandteil bei ganz vielen seiner Stücke. Für die meisten Leute ist das heute einfach nur Quatsch oder Dichtung. Für mich nicht und darum haben wir nach einer heutigen Übersetzung dafür gesucht. Wir haben sie dahingehend interpretiert, dass sie als gesellschaftliche Outlaws Teil einer Subkultur sind, die nach etwas Neuem sucht. So kamen wir dann schließlich auf einen «Lost Space», einen verlorenen oder vergessenen Ort, in dem ganz andere Regeln herrschen, als wir sie gewohnt sind.

 

Der «Lost Space» als eine Art Fluchtraum vor dem Alltag?

Ja, gleichzeitig ist er auch ein Ort der Möglichkeiten, ein Ort zum Träumen, um der «Realität» zu entfliehen. Und weil darin Drogen oft eine nicht unwesentliche Rolle spielen, hat er auch etwas Illegales. Unser Bühnenbild spielt auch bewusst damit, dass man nicht genau weiß, ob das alles so legal ist, was hier passiert.

 

Wichtiges Zentrum des Stückes sind die beiden Liebespaare und das Gefühlschaos in das sie dank Puck hineingestoßen werden. Du hast dich entschieden diese hochemotionale Spirale noch ein Stück weiter zu drehen, indem du die Geschlechter vertauscht hast: aus Hermia wird bei dir Lysander, aus Demetrius Demetria und aus Helena Helmut. Was ist der Gedanke dahinter?

Zum einen finde ich, dass Kunst die Zeit reflektieren sollte, in der sie gemacht wird. Und gerade heute spielt die Fixierung auf ein Geschlecht bei jungen Menschen keine entscheidende Rolle mehr. Es geht allein um die Person und jeder hat die Freiheit, sich so zu definieren wie er möchte. Zum anderen setzen wir uns – seit einigen Jahren allerdings erst – damit auseinander, was männliche und weibliche Zuschreibungen sind und was für eine Rolle diese gerade auch gesellschaftlich spielen. Da ist es sehr spannend zu beobachten, wie Shakespeare in seinen Stücken bereits über Geschlechter und Geschlechterzuschreibungen nachgedacht hat und gleichzeitig in seinem Denken und Schreiben wesentlich weiter war als wir mitunter heute. Trotzdem gibt es in der Originalbesetzung sehr klare Zuschreibungen. Die Männer sind vor allem offensiv und aktiv, die Frauen dagegen sind eher passiv und reagieren eigentlich nur. Ein solches Rollenbild finde ich langweilig und nicht zeitgemäß. Bei den Proben war es interessant zu sehen, dass es gar nicht so leicht ist, diese Klischees nicht mehr zu bedienen. Durch den Geschlechtertausch führen jetzt die Frauen in den meisten Szenen, und die Männer sind in der passiven Rolle des Reagierenden. Und da merkt man wie sehr dieses alte Rollenverständnis in die Körper eingeschrieben ist und dass es gar nicht so selbstverständlich ist, das zu verlassen, obwohl wir vom Intellekt natürlich längst woanders sind.

 

Kommen wir nach den beiden Liebespaaren zu einer anderen zentralen Figur des «Sommernachtstraums»: Puck. Gerade bei ihm gehen auch in den Inszenierungen die Interpretationen weit auseinander. Wer ist Puck bei dir?

Puck ist Teil dieser Subkultur von der ich vorhin gesprochen habe. Er ist jemand der – nicht sehr überraschend – gerne mit Drogen experimentiert. Er ist eine Art Grenzgänger, der sich sogar selbst gefährdet, gerade weil er ein Suchender ist. Bei uns ist er darum auch weniger ein Diener Oberons, der permanent verfügbar ist und die in ihn gestellten Erwartungen bedienen will. Er ist mehr der Typ Einzelgänger, eine schillernde Gestalt auf der Suche nach einer eigenen Utopie. Im Grunde ist er ein freies Radikal, das sich allem verweigert. Aber gerade in diesem Nichtzustand steckt natürlich riesiges Potenzial, denn manchmal entpuppen sich diese seltsamen Gestalten plötzlich und werden zu einem wunderschönen Schmetterling.

 

Puck als ein möglicher Schmetterling finde ich ein sehr schönes Bild. Mit welchem Bild oder Gedanken möchtest du, dass die Zuschauer*innen aus deiner Inszenierung vom «Sommernachtstraum» gehen?

Das Finale gehört ja den Handwerkern, die diese fulminante Liebesgeschichte aufführen – die nichts anderes ist als «Romeo und Julia» – und die ganz tragisch-komisch mit dem Tod von Pyramus und Thisbe endet. Genau darin liegt aber auch ein absolutes Bekenntnis zu einer völlig unmöglichen Liebe. Sie steht für mich stellvertretend dafür, dass man nicht sofort aufgeben soll, wenn es vielleicht einmal nicht so läuft. Wir sollten verstehen, dass Liebe, Gemeinschaft und damit letztlich auch Demokratie immer Arbeit bedeutet – und zwar tägliche Arbeit! Dazu gehört auch eine gewisse Offenheit, nicht nur für die eigenen, sondern genauso für die Blickwinkel und Ansichten der anderen. Wir sollten wieder mehr zu einem gegenseitigen Austausch kommen und uns nicht aus Angst und Voreingenommenheit dagegen verweigern. Das hat auch viel mit Liebe zu tun, weil Liebe bedeutet, etwas zuzulassen. Für dieses Denken wieder aufgeschlossener zu sein, das fände ich toll, wenn uns das gelänge. Überhaupt an den Punkt zu kommen, wieder träumen zu können.