Elisabeth Bronfen: «SOMMERLICHE GEWALTTRÄUME»

Der «Sommernachtstraum» mag eine Komödie sein, aber Gewalt ist in diesem Stück allgegenwärtig. Bereits in der ersten Szene wird die Amazonenkönigin Hippolyta als Kriegsgefangene eingeführt. Theseus, der Herzog von Athen, hat sie auf dem Schlachtfeld mit seinem Schwert erobert. Als Belohnung für seine Übermacht, darf er sie zwingen, ihn zu heiraten. Er verspricht ihr für die nächsten vier Tage zwar fröhliche Feierlichkeiten, um ihr diese Niederlage zu versüßen. An dem romantischen Verwirrungsspiel, das bald darauf im nächtlichen Wald einsetzt, nimmt sie jedoch nicht Teil. Sie tritt erst wieder in Erscheinung, nachdem diejenigen, die dort dem Zauber des Feenkönigs Oberon unterliegen, wieder erwacht sind.

An diesem anderen Ort, der den Hof von Athen spiegelt und zugleich einen Kommentar für die paternale Macht, die dort waltet, abgibt, hat Hippolyta stattdessen eine Doppelgängerin: Titania. Auch sie unterliegt ihrem Gegner in einem Zweikampf, nur betrifft es in diesem Fall einen Ehestreit. Oberon will sie dafür bestrafen, dass sie nicht bereit ist, ihm den Knaben einer indischen Ordensschwester abzutreten, den er in seiner Gefolgschaft haben will. Nicht aber mit dem Schwert will er sie besiegen, sondern mit einem Zaubertrick. Er beträufelt ihre Augen mit Liebestropfen, nachdem sie in ihrer Gartenlaube eingeschlafen ist. Beim Erwachen muss sie sich in das erste Geschöpf, das sie erblickt, vergaffen. Die List des Feenkönigs geht auf. Von dem Handwerker Zettel, den sein Puck in eine Eselsgestalt verwandelt hat, ist Titania so verzaubert, dass sie ihn zu ihrem Liebhaber für diese Nacht wählt.

Wir können ihren Liebeswahn entweder als clevere Bestrafung, als erschütternde Verblendung oder als erotische Ektase verstehen, hebt doch der Eselskopf die Potenz des irdischen Liebhabers hervor. Oberon jedoch treibt sein böses Spiel noch weiter. Die Augen seiner Königin entzaubert er noch bevor sein Puck den Eselskopf des Schlafenden, der dicht neben ihr im Gras liegt, wieder entfernt hat. Die Versöhnung des Feenpaares basiert auf einer inszenierten Demütigung. Titania muss sich eingestehen, dass sie für den Liebhaber, der ihr noch vor Stunden wie ein Engel vorgekommen ist, nun nur Abscheu empfinden kann. Wie Hippolyta dem Krieger Theseus, der sie mit seinem Schwert erobert hat, ist auch die Feenkönigin ihrem Gatten unterlegen. Weil sie sich nicht mehr an das, was vorgefallen ist, erinnern kann, weiß sie im Gegensatz zur Amazonenkönigin jedoch gar nicht, mit welchen Waffen er sie geschlagen hat.

Noch eine weitere Figur lässt sich als Spiegelung Hippolytas lesen. Schweigend schaut die Amazonenkönigin am Anfang des Stückes zu, wie Egeus, Mitglied des Hofstaates, seine Tochter mit dem Jüngling Demetrius verheiraten will. Gehorcht Hermia ihm nicht, muss sie entweder ins Kloster oder aufs Schafott. Es ist, als wäre ein Funke des Kampfgeistes auf die junge Frau übergesprungen, denn diese denkt sich eine dritte Option aus. Sie will mit ihrem Geliebten Lysander bei ihrer verwitweten Tante Obhut suchen. Helena, ihre Jugendfreundin, hat von dem Fluchtvorhaben Wind bekommen und Demetrius davon erzählt. Obgleich ihr früherer Geliebter sie jetzt verschmäht, ist sie ihm weiterhin so verbunden, dass sie bereit ist, ihre Freundin seinetwillen zu hintergehen. Im nächtlichen Wald, in den die vier jungen Athener*innen fliehen, greift Oberon gewaltsam in den Liebesstreit ein und bittet seinen Puck, die Augen von Demetrius zu beträufeln. Dieser soll die Reize seiner ersten Geliebten wiedererkennen. Weil sein Puck aber stattdessen die Augen von Lysander verzaubert und dieser beim Erwachen als erste die herumirrende Helena sieht, beginnt eine neue Runde des Liebesstreits.

Nachdem er den Fehler erkannt hat verzaubert Oberon selbst die Augen des anderen Jünglings. Er stellt dabei sicher, dass Helena in der Nähe ist, sodass Demetrius beim Erwachen sie erneut begehrt. Die gewaltsame Wankelmütigkeit der Liebe findet somit eine entlarvende Darbietung. Helena, die anfangs keiner der beiden Männer wollte, wird von beiden nun stürmisch umworben. Hermia, um die im ersten Akt gestritten wurde, wird verworfen und soll von allen verlassen allein durch den Wald wandern. Zwischen dem Handeln des Feenkönigs und dem seines schalkhaften Elfen zeichnet sich jedoch eine entscheidende Differenz ab. Oberon will zwar seine Königin gefügig machen, zugleich aber Hermia und Helena darin unterstützen, dass sie den Bräutigam bekommen, den sie für sich ausgesucht haben. Puck hingegen genießt die Verwirrungen, die seine Zaubertricks verursachen um ihrer selbst willen. Dafür, dass er seine Erwartungen, was die Demütigung Titanias betrifft, überboten hat, lobt Oberon ihn. Dafür, dass er die Augen des falschen Jünglings verzaubert hat erhält er Schelte. Für den Feenkönig ist das Eingreifen in das Liebestreiben anderer so lange gerechtfertigt, als es seine souveräne Macht stützt. Die ungezügelte Freude am Spiel der Liebestäuschung des Puck muss jedoch gebändigt werden.

Doch der Eingriff Oberons stellt nicht nur eine gewaltsame Manipulation dar. Er macht aus dem Wald auch einen Schauplatz, auf dem die vier Liebenden verborgene Ängste, Liebeswut und mörderische Lust erleben und ausleben dürfen. Im Zuge ihres anhaltenden Streits kippt Liebe in ihr Gegenteil um. Helena, die bis zur Selbsterniedrigung von ihrem Begehren nicht lassen will, hatte Demetrius bereits beim Betreten des Waldes versichert, er dürfe sie verschmähen, schlagen und erniedrigen. Sich bewusst, dass sie seiner unwürdig ist, will sie ihm dennoch treuherzig folgen. Er hingegen hatte sie gewarnt, dass er bereit sei, ihr Unheil zuzufügen, sollte sie nicht von ihm ablassen. Lysanders Liebe wiederrum schlägt erst in Verachtung um, nachdem seine Augen verzaubert wurden. Grausam verwirft er die Geliebte, derentwillen er überhaupt in den Wald geflohen ist.

Im Zeichen der Liebesgewalt, die in dieser Sommernacht die Oberhand gewinnt, kann es auch zwischen den beiden Jugendfreundinnen keine Solidarität geben. Der Verrat, den Helena fälschlicherweise ihrer Jugendfreundin unterstellt, spiegelt die Gefahr, in der sie sich wähnt. Sie erinnert Hermia daran, dass Demetrius ihr gedroht hat, sie zu töten, würde sie nicht von ihm lassen. Zugleich ist mit der Verzauberung seiner Augen Lysander ebenfalls von einer Lust an Gewalt infiziert worden. Kurz stellt er sich vor, wie er Hermia verletzen könnte, gesteht dann aber ein, er würde sie zwar hassen, wolle ihr aber kein solches Leid zufügen. Die Tötungen, die stattfinden könnten, werden abgewendet. Während Helena die Liebestorheit der beiden Jünglinge weiterhin für eine Verspottung hält, meint Hermia in ihrer Jugendfreundin nun eine Rivalin zu erkennen. Am Höhepunkt der durch die Zaubertropfen ausgelösten Missverständnisse streiten nicht nur Demetrius und Lysander um die gleiche Frau, Hermia droht ihrerseits, sich mit Helena zu schlagen.

Oberon greift mit einer letzten Regieanweisung ein: Er lässt seinen Puck zuerst die jungen Männer mit gezückten Schwertern durch den dunklen Wald jagen, dann, am Waldrand erschöpft angelangt, ein weiteres Mal einschlafen. Kurz vor Morgengrauen befreit er Lysander ­– nicht aber Demetrius – von seinem verzauberten Blick. Auch die beiden jungen Frauen werden von magischen Kräften gelenkt am Waldrand einschlafen, jeweils an der Seite ihres ursprünglichen Geliebten. Beim Erwachen am nächsten Morgen können alle vier nur ungenau erklären, was ihnen in der Nacht geschehen ist. Sie wissen nicht mehr, warum Demetrius seine Liebe zu Helena wiederentdeckt hat. Einig sind sie sich aber darin, dass diese Traumerfahrung ihre Spuren hinterlassen hat. Deshalb spricht Hermia für alle, wenn sie behauptet, sie würde die Dinge mit geteiltem Auge sehen, als wenn ihr alles doppelt erscheinen würde.

Wenn man das, was im nächtlichen Wald stattgefunden hat, als Spiegelung der Hochzeitsfeier, die in der folgenden Nacht am Hof in Athen stattfindet, versteht, könnte man auch mutmaßen: Die Liebesverblendungen, die Demütigungen, aber auch das Beharren auf dem eigenen Begehren, welche die Feenkönigin und die jungen Athenerinnen darbieten, gehören zu dem Traum, den Hippolyta träumt während sie den von ihrem Gatten veranstalteten Festlichkeiten beiwohnt. Mit Titania verarbeitet sie die Schmach ihrer Hochzeit. In Hermia und Helena hingegen schafft sie sich Töchter, die am Ende erhalten, was sie am Anfang des Stückes gefordert haben. Doch diese glückliche Fügung bleibt ambivalent. Die Gewalt, die ihnen von ihren Liebhabern drohte, wird nach dem Erwachen zwar nur mit einem gespaltenen Blick erinnert, kehrt aber im letzten Akt, der für die Auslösung der dramatischen Handlung gar nicht nötig ist, auf verstellte Weise zurück.

Während dem Fest dürfen der Handwerker Zettel und seine Truppe auftreten. Theseus hatte deren Stück ausgesucht, weil ihm der widersprüchliche Titel ins Auge gefallen war: „A tedious brief scene of young Pyramus and his love Thisbe; very tragical mirth“. Was die Hochzeitsgesellschaft zu sehen bekommt ist tatsächlich eine Aufführung, in der das Tragische sich mit Heiterkeit vermengt, weil die Schauspieler ihr Spiel mit unsinnigen Eigenkommentaren unterbrechen. Hippolyta verkündet deshalb auch, es sie die albernste Darbietung, der sie je beigewohnt hat. Ihr Spott kann aber auch als Schutzgeste verstanden werden. Die kurze und zugleich langatmige Szene, die der Festgesellschaft zur Belustigung dargeboten wird, führt ihnen vor, wie ein Liebhaber den blutigen Umhang seiner Geliebten findet und sich ersticht. An seiner Leiche bringt Thisbe sich alsdann mit dem Schwert ihres Geliebten um. Für die frisch gestifteten Ehepaare erscheint das tragische Ende als Scherz, weil diese Theateraufführung für sie keine Konsequenzen hat. Theseus erklärt Zettel, es brauche keinen Epilog und bittet stattdessen die Paare, sie mögen sich in ihre Ehebetten zurückziehen. Man könnte aber auch festhalten: Es gibt einen weiteren Grund, warum das Stück ohne weiteren Kommentar beendet werden soll. Es hat den Liebenden auf einer anderen Bühne jene Gewalt vorgeführt, die im nächtlichen Wald gerade noch abgewendet werden konnten und ruft ihnen somit die eigene Zerstörungslust nochmals in Erinnerung. Demetrius hätte Lysander töten und Hermia sich beim Anblick der Leiche umbringen können. Der Eingriff des Feenzaubers hat dies verhindert. Dieses gefährliche Potential hallt nach in der kollektiven Hochzeitsnacht, mit der die Komödie ihr Ende findet.

 

Elisabeth Bronfen ist Kultur- und Literaturwissenschaftlerin und Buchautorin. Von 1993 bis 2023 war sie Professorin für Anglistik und Lehrstuhlinhaberin am Englischen Seminar der Universität Zürich. Zudem ist sie seit 2007 Global Distinguished Professor an der New York University. Sie hat zahlreiche Aufsätze in den Bereichen Gender Studies, Psychoanalyse, Literatur-, Film- und Kulturwissenschaften sowie einige vielbeachtete Bücher veröffentlicht. Sie lebt in Zürich.


«Sommerliche Gewalträume» ist ein Auszug aus Elisabeth Bronfens neuem Buch «Shakespeare und seine seriellen Motive», das im Frühling 2025 beim S. Fischer Verlag erscheinen wird.