«Die dunkle Seite der Zivilisation»
Dramaturg Michael Billenkamp im Gespräch mit Autor und Regisseur Alexander Eisenach.
Die Basis für deinen Abend über den Schiffbruch der Fregatte Medusa ist der gleichnamige Bericht von Jean-Baptiste Henri Savigny und Alexandre Corréard aus dem Jahr 1818. Die beiden beschreiben darin die Ereignisse, die zur Havarie des Schiffes führten und auch den darauffolgenden Überlebenskampf der 150 Menschen auf dem Rettungsfloß, von denen nur fünfzehn am Leben blieben. Worin liegt für dich der besondere Reiz, ein Stück über ein Schiffsunglück und seine Folgen zu machen?
Herausfordernd war zunächst einmal der Gedanke dieser klaustrophobischen Floßsituation. Was passiert zwischen 150 Menschen, die auf einem engen Rettungsfloß zusammengepfercht sind? Dazu kommt, dass sich in dem Überlebenskampf zwischen den auf dem Floß ausgesetzten Menschen, diesem «Alle-gegen-alle», parabelhaft ein gewisser Zeitgeist widerspiegelt. Weiter ist da auch das Thema des Kannibalismus, das ja eng mit dem Unglück der Medusa verknüpft ist und das in sehr unterschiedliche Richtungen codierbar ist. Und schließlich knüpfen sich an die ganze Geschichte noch eine Reihe weiterer Themen an, wie die Französische Revolution, der Abenteuergeist und das Entdeckertum des 19. Jahrhunderts, die ich als Folien für Theater alle extrem spannend und reizvoll finde. Es macht ja auch Spaß, mit solchen Genres zu spielen.
Der vorbehaltlose Fortschrittsglaube war der Beginn unseres Schiffbruchs.
Alexander Eisenach
«Der Schiffbruch der Fregatte Medusa»
In diese Geschichte spielen tatsächlich sehr viele Themen mit hinein. Den Kannibalismus hast du bereits angesprochen, aber ebenso gehört auch der Kolonialismus dazu, die kapitalistische Ausbeutung des afrikanischen Kontinents und der Kampf um Ressourcen. Inwiefern spielen diese Themen in deiner Inszenierung eine Rolle?
Die Parallele, die man zwischen Kannibalismus und Kolonialismus ziehen kann, ist sehr offensichtlich. Es kommt ja überhaupt erst zu dieser Schiffskatastrophe, weil Frankreich den Senegal von den Engländern als Kolonie zurück erhält. Und der Kolonialismus im frühen 19. Jahrhundert war gleichbedeutend mit der schonungslosen Ausbeutung eines ganzen Kontinents, die keinerlei Rücksichtnahme kannte, schon gar nicht auf menschliches Leben. Es war eine brutale «Vernutzung» von Leben, die in der Geschichte ihresgleichen sucht. Dies alles aber geschah unter dem humanistischen Deckmantel, den afrikanischen Kontinent zu «zivilisieren» und den Menschen dort die eigene, europäische Kultur aufzuzwingen. Gleichzeitig aber bestimmte in Europa die Aufklärung das Denken, wurde die Befreiung des Menschen aus den feudalistischen Herrschaftsstrukturen propagiert und von Voltaire die Grundlage für die universellen Menschenrechte gelegt. Und dieses aufklärerische Denken und Handeln führte man am anderen Ende der Welt ad absurdum und sprach den Menschen in den eroberten Kolonien jede Menschenwürde ab. Für sich selbst nahm man in Anspruch, Vertreter einer höheren Zivilisation zu sein und erklärte im Gegenzug die in anderen Teilen der Welt entdeckten indigenen Völker kurzerhand zu Kannibalen. Tatsächlich aber verhielten sich die Eroberer und Kolonialherren selbst wie Kannibalen, die sich die anderen Kulturen und Ökonomien regelrecht einverleibten.
So betrachtet ist der Kannibalismus ein Symptom für expandierende Gesellschaften und eine Metapher für politisches Handeln?
Ja, das kann man so formulieren. Auf jeden Fall für eine Gesellschaft, damals genauso wie heute, die nur das Aufbrauchen und das Aufzehren kennt. Hier spielt dann auch auf einer anderen Ebene der Schiffbruch hinein: Wir sind uns ja alle der Endlichkeit natürlicher Ressourcen bewusst, trotzdem steuern wir, um im Bild zu bleiben, als Weltgemeinschaft gerade wissentlich auf eine Sandbank zu. Wir kennen eigentlich die Handgriffe und Werkzeuge, die diese Kollision verhindern könnten, aber das exzessive Besitzdenken, das Immer-mehr-haben-wollen, Immer-noch-mehr-produzieren-müssen, führt zu einer Form der Beschleunigung, die einen Crash eigentlich unvermeidlich macht.
Ich habe die Anfänge der Menschheit und unserer Zivilisation gesehen. Den stumpfen und gnadenlosen Aberglauben des Wachstums und der Mehrwertproduktion. Die pure Wildheit!
Alexander Eisenach
«Der Schiffbruch der Fregatte Medusa»
Kannibalismus ist ja eines der ganz großen zivilisatorischen Tabus, weil es als zutiefst unmenschliches Verhalten gilt. Für die Menschen auf dem Floß scheint das keine große Abschreckung gehabt zu haben, denn nach nur vier Tagen wurde das Tabu bereits gebrochen. Wie würdest du diese Grenzüberschreitung erklären?
Das finde ich schwierig zu beantworten. Kämpft der Mensch in Extremsituationen nur für sich und sein Überleben, oder ist er in der Lage, sich trotz aller Bedrohung von Leib und Leben solidarisch zu verhalten und zu erkennen, dass er nur in der Gemeinschaft eine echte Überlebenschance hat? Die Frage ist also, ob der Mensch in seinem Kern eher altruistisch oder egoistisch ist. Oder anders formuliert: Ist der Mensch in seinem Naturzustand gut oder schlecht, und ist es am Ende die Gesellschaft, die ihn zivilisiert beziehungsweise degeneriert? Das sind die Fragen, die mich in dem Stück bewegen und die wir auch thematisieren, denn ich bin gar nicht so sicher, ob es darauf eine eindeutige Antwort gibt.
Die ungekürzte Version dieses Interviews finden Sie im Programmheft zu «Der Schiffbruch der Fregatte Medusa», erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als Onlineversion zum Download hier.