IM MINENFELD VON MACHT UND POLITIK
Shakespeares Zeitgenoss*innen müssen dessen zweiteiliges Historiendrama «King Henry IV», das chronologische Scharnier zwischen den Königsdramen «Richard II» und «Henry V», auch als Kommentar auf ihre Gegenwart und den ungewissen Fortbestand des innen- wie außenpolitisch massiv unter Druck stehenden englischen Königreichs verstanden haben. Längst ist die letzte Herrschaftsdekade der kinderlosen Königin Elisabeth I. angebrochen, deren ungeklärte Nachfolge ein politisches Vakuum befürchten lässt. Shakespeare richtet den Blick durch den Spiegel der Vergangenheit nach vorne in eine beängstigende Zukunft und (ver-)dichtet mit «Henry IV» die Historie um den Usurpator Henry Bolingbroke, der König Richard II. entmachtete und illegitim zum Herrscher wurde. Und als hätte das Königtum damit an Glanz verloren, vertraut Shakespeare nicht mehr ausschließlich auf den dramatischen Effekt politischer Machinationen und erweitert das Königsdrama um komödiantische Einschübe im derben Milieu der Kneipe: Als Vehikel dient ihm der sinnesrauschende, armutsgefährdete Ritter Falstaff, der den titelgebenden König in punkto Aufmerksamkeitsökonomie und Popularität beim englischen Publikum von da an bei Weitem übertrumpft.
Der österreichische Dramatiker Ewald Palmetshofer unterzieht Shakespeares selten gespielte Historie «Henry IV», in der sich Königsdrama und Komödie auf verblüffende Weise die Hand reichen, einer Récriture. Dabei reduziert er das handelnde Personal, greift Shakespeares Königstravestie in der Kneipenszene als Spiel-im-Spiel auf und betont einen performativen Erzählgestus. Ins Zentrum stellt er den raumgreifenden (Anti-)Helden Falstaff und schreibt dieser im deutschen Sprachraum zu Unrecht übersehenen Figur das ihr zustehende, eigene Stück. Palmetshofer zeigt Falstaff als Vertreter des Prekariats und vermisst in seiner dramatisch-soziologischen Versuchsanordnung das Gravitationsfeld von Herkunft und Klasse, das er als Minenfeld von Macht und Politik decouvriert. Und wenn Falstaff meint, sich mittels sprachlicher Volten, rhetorischer Finesse und mit stupendem Witz im sozialen Schmelztiegel der Spelunke mit seinem Freund und Saufkumpan, dem Politikaspiranten Harri gemein machen und ihm seine Zuneigung zeigen zu können, begibt er sich auf gefährliches Terrain.
Wie schon Shakespeare dient auch Palmetshofer die Bühne als Instrument der Gegenwartsschau, um eine beunruhigende Frage zu stellen: Was, wenn bestehende Machtstrukturen Krisen nicht nur überdauern, sondern sich in deren Schatten neu konfigurieren und gestärkt aus ihnen hervorgehen? «Sankt Falstaff» zeichnet das Bild eines (noch) als Demokratie getarnten Autoritarismus, der an der Teilhabe Andersdenkender und Nichtprivilegierter nicht interessiert ist. Palmetshofer beschreibt eine politische Ordnung naher Zukunft, die aktuelle ideologische Debatten und das Erstarken extremistischer Politik konsequent weiterdenkt. Ein Narr, wer Böses dabei denkt und illiberale Entwicklungen in europäischen Staaten wie etwa Ungarn oder der Slowakei vor Augen hat.
Doch da der Mensch ein zukunftsbegabtes Wesen ist, dem wenig Hoffnung bleibt, wenn die Perspektive fehlt, deutet Ewald Palmetshofer am Ende seiner Neudichtung vage an, dass eine couragierte Zivilgesellschaft die inhumanen Methoden autokratischer Herrschaft nicht akzeptieren muss, Protestbewegungen Widerstand leisten können und die negativen Folgen reaktionärer Überwachungs- und Kontrollmechanismen keineswegs irreversibel sind.