DER WUNSCH NACH NEUGIERDE

Ein Gespräch mit Autorin Lot Vekemans über «Blind».

Nach «Niemand wartet auf dich» steht nun «Blind» auf dem Spielplan des Residenztheaters. Einmal mehr haben Sie ein Stück vorgelegt, das kam­merspielartig elementare Fragen des menschlichen Miteinanders verhan­delt. Könnte man sagen, das ist Ihr Lebensthema?

Ich interessiere mich stets für die Frage, wie wir uns zueinander verhalten und wie wir mit den großen Emotionen umgehen, die uns begegnen, wenn wir miteinander oder mit dem Leben in Konflikt geraten. «Blind» handelt für mich im Kern von der Frage, wie man zusammenleben soll, wenn man weit voneinander entfernt ist. Versucht man sich anzunähern, zu verstehen oder geht man sich so weit wie möglich aus dem Weg? Wie neugierig sind wir aufeinander? Ist man in der Lage, sich über die eigenen Überzeugungen hin­wegzusetzen? Oder schließt man sich in seiner eigenen Blase ein, wo es sich angenehm leben lässt? Natürlich geht es dabei eigentlich um Angst. Wir wollen uns sicher fühlen und verwechseln Sicherheit mit «Bewachtsein». Doch was macht der ganze Schutz, mit dem wir uns umgeben: Schließt er etwas Uner­wünschtes aus oder schließt man sich eigentlich selbst ein? Das ist eine Frage, mit der ich mich schon länger beschäftige. In «Blind» prallen zwei Weltbilder aufeinander. Zwei Welten, die sich nicht annähern wollen, es jedoch an einem bestimmten Punkt müssen. Was passiert, wenn man sich gegenseitig nicht mehr ausweichen kann, wenn alle tatsächlichen und bildlichen Zäune nicht mehr funktionieren?

Vater und Tochter blicken mit großem Unverständnis für die jeweilige Le­bensführung aufeinander. Geht es Ihnen um den großen Konflikt zwischen den Generationen im Allgemeinen? Oder ist dieser Vater-Tochter-Konflikt vor allem als ein individueller zu lesen?
Ich glaube, viele Menschen erkennen darin auch einen Generationenkon­flikt, in dem die Älteren vor allem einen Status Quo aufrechterhalten und die Jüngeren die Welt verändern wollen. Es ist unmissverständlich auch ein Vater-Tochter-Stück, in dem man einem Kind begegnet, das um die An-erkennung des Elternteils kämpft. Gleichzeitig ist der Elternteil inzwischen der verletzlichere und auf Hilfe angewiesen. Während des Schreibens habe ich mich gefragt, wie lange man als Eltern für das Wohlergehen seines Kin­des verantwortlich bleibt. Und ob man als Kind an einem bestimmten Punkt verantwortlich für das Wohlergehen der Eltern ist. Ich denke, diese Fragen werden Kinder mit inzwischen betagten Eltern verstehen.
 

Wir lesen das Stück als eines, das genau so in einer nahen Zukunft in Europa spielen kann, wenn sich «Gated Communities» für wohlhabende Menschen in unseren Städten weiterverbreiten und man sich vor Über­fällen durch private Securityfirmen schützen muss – oder sind wir «blind» und es ist ein Stück über das heutige Europa? Hat uns die Zukunft bereits eingeholt?
Wir leben in Europa ja bereits längere Zeit mit der Angst vor dem fremden Anderen, das wir mit aller Kraft draußen zu halten versuchen. Wir schließen zweifelhafte Verträge, um unsere Grenzen zu bewachen, alles in dem verzwei­felten Versuch, unsere privilegierte europäische Existenz zu erhalten. Wir le­ben in einer abgeschotteten Welt, die sich nur zu ihren eigenen Bedingungen verändern will. Aber Veränderung lässt sich nicht vorschreiben. Veränderung kann man nicht über bekannte, ausgetretene Pfade lenken. Veränderung fin­det statt, sie kümmert sich nicht um Grenzen, die wir krampfhaft zu bewa­chen versuchen. In diesem Sinne spielt «Blind» auch schon bei uns. Es würde mich nicht wundern, wenn in zehn oder fünfzehn Jahren auch in Westeuropaüberall «Gated Communities» entstünden. Ich spüre diese Angst auch in mir und gleichzeitig spüre ich die dringende Notwendigkeit, mich zu öffnen. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der die Neugierde auf das Gegenüber größer ist als die Angst voreinander.
 

THE FREE WATER SYSTEM, die Erfindung von Richard, verspricht Hoffnung für die Wasserknappheit in «Blind». Ein einfaches Gerät zur Wassergewin­nung und eine Sensation, die für nur 400 Dollar zu haben ist. Die Anleitung haben Sie uns zur Verfügung gestellt – was verhindert, dass diese Erfin­dung vielen Menschen den Zugang zu Wasser erleichtert?
In sehr abgelegenen Gebieten der USA gibt es bereits Leute, die ein solches System für sich selbst bauen. Es gibt auch steigendes Interesse bei den Men­schen, die sich jetzt dafür entscheiden, «off grid» zu leben. Ich finde es erstaunlich, dass dieses System noch nicht im großen Rahmen angewendet wird. Aber ich finde vieles erstaunlich. Vielleicht verdient man letztendlich an so etwas nicht genug.
 

In Ihren Werken, seien es Ihre erfolgreichen Theaterstücke oder Ihre Ro­mane, gibt es am Ende immer ein kleines Licht, das Hoffnung auf eine bessere Zukunft verspricht, auf Verständigung. Brauchen wir Hoffnung, um das Leben ertragen zu können?
Ich glaube, wir brauchen Perspektiven, die Ausgänge zeigen. Das ist für mich etwas Anderes als Hoffnung. In meiner Arbeit versuche ich immer, einen sol­chen Ausgang zu zeigen, den Ausgangspunkt einer anderen Wirklichkeit, die einlädt, einen anderen Weg einzuschlagen. Ich überlasse die Verantwortung für eine solche Entscheidung immer meinen Figuren. Es liegt an ihnen, ob sie sich verändern wollen oder können. Ich gebe ihnen die Möglichkeit, mehr nicht. Das Ende in meinen Stücken ist immer offen.


Übersetzung aus dem Niederländischen: Eva M. Pieper und Alexandra Schmiedebach