Chiffrierte Wirklichkeit

Autor und Theaterkritiker C. Bernd Sucher über den vor einhundert Jahren verstorbenen Franz Kafka anlässlich der Inszenierung von «Das Schloss»

 

Am 25. Oktober 1920 schreibt Kafka seiner Milena Jesenská wieder einen Brief, fünf Tage nachdem er in einem anderen beteuert hatte, «dass wir niemals zusammenleben werden und können». Er beginnt ihn zerstreut:

 

«Mittwoch gehst Du also auf die Post und es wird kein Brief dort sein – doch, der von Samstag. Im Bureau konnte ich nicht schreiben, weil ich arbeiten wollte, und arbeiten konnte ich nicht, weil ich an uns dachte. Am Nachmittag konnte ich nicht aus dem Bett aufstehn, weil ich nicht zu müde, sondern ‹zu schwer› war, immer dieses Wort, es ist das einzige, das für mich passt, verstehst Du es eigentlich? Es ist etwa die ‹Schwere› eines Schiffes, das das Steuer verloren hat und das den Wellen sagt: ‹Für mich bin ich zu schwer, für Euch zu leicht.› Aber auch so ist es nicht ganz, Vergleiche können es nicht ausdrücken.»

 

Später in dem Brief diskutiert er, welche Schuld er trägt an dem Zerwürfnis und spricht von «Angstschweiß» auf der Stirn, wenn er darüber nachdenkt. Und endlich kommt er zum Wichtigsten, einer Zeichnung, die er auf einem Briefbogen angefertigt hat:

 

«Damit Du etwas von meinen ‹Beschäftigungen› siehst, lege ich eine Zeichnung bei. Es sind vier Pfähle, durch die zwei mittleren werden Stangen geschoben, an denen die Hände des ‹Delinquenten› befestigt werden; durch die zwei äußern schiebt man Stangen für die Füße. Ist der Mann so befestigt, werden die Stangen langsam weiter hinausgeschoben, bis der Mann in der Mitte zerreißt. An der Säule lehnt der Erfinder und tut mit übereinandergeschlagenen Armen und Beinen sehr groß, so als ob das Ganze eine Originalerfindung wäre, während er es doch nur dem Fleischhauer abgeschaut hat, der das ausgeweidete Schwein vor seinem Laden ausspannt. Ich frage deshalb, ob Du Dich nicht fürchten wirst, weil nämlich der, von dem Du schreibst, nicht existiert, nicht existiert hat, der in Wien hat nicht existiert, der in Gmünd auch nicht, aber dieser letztere noch eher und er soll verflucht sein. Das zu wissen ist deshalb wichtig, weil wenn wir zusammenkommen sollten, wieder der Wiener oder gar der Gmündener wieder auftreten wird, in aller Unschuld, als sei nichts geschehn, während unten der Wirkliche, allen und sich selbst unbekannt, noch weniger existierend als die andern, aber in seinen Machtäußerungen wirklich als alles hinaufdrohen und alles zerschlagen wird.»

 

Dieser Brief steht hier am Anfang, weil diese Zeichnung ein Motto sein soll und schon verweist auf den Text «In der Strafkolonie». Es geht um einen Zerrissenen: das Genie Kafka. Bei aller Verehrung, dieser Schriftsteller bleibt bei der Lektüre den meisten Leserinnen und Lesern ein Fremder. Man fühlt sich angezogen und zugleich abgewiesen: vor der Tür, nicht hereingelassen, ausgesperrt. Eben abgewiesen wie der Erzähler in dem 1908 erstmals erschienen kurzen Text «Die Abweisung»: Selbst dieser kurze Text verstört. Näher kommt man Kafka, wenn man seine Briefe liest und seine Tagebuchnotizen. Kafka tagträumt in all seinen Texten Nachtmahre. Die Nacht ist die Zeit, in der er schreibt und über die er schreibt. Er fürchtet die Nacht und zugleich verheißt und gibt sie ihm Trost. Der Abend, so schreibt er seinem Freund Max Brod, der später, nach Kafkas Tod, dessen Werk herausgeben wird, der Abend tröste ihn nach der Geschäftigkeit des Tages. Dann kommt ein Satz, der sich mir eingebrannt hat, wie Ingeborg Bachmanns «Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein.» Bei Kafka heißt es: «Ja, wenn man durch Trost schon glücklich würde und nicht auch ein wenig Glück zum Glücklichsein nötig wäre.» Oder an anderer Stelle: die Begierde nach dem plötzlichen Schlaf, der Ohnmacht, die, wenn nicht Glück, so doch Trost verspreche. Die kurze Notiz «Die Ohnmacht als die Schwester des Schlafs» findet sich im ersten von acht kleinen Oktavheften, also Vokabelheften, in denen Kafka Aphorismen und kleinere Betrachtungen notierte und entstand wahrscheinlich 1917 (aber selbst diese Zeitangabe ist spekulativ, weil Kafka nur einen einzigen Eintrag datiert hat):

 

«Gestern kam eine Ohnmacht zu mir. Sie wohnt im Nachbarhaus, ich habe sie dort schon öfters abends im niedrigen Tor gebückt verschwinden sehn. Eine große Dame mit lang fließendem Kleid und breitem, mit Federn geschmücktem Hut. Eiligst kam sie rauschend durch meine Tür, wie ein Arzt, der fürchtet, zu spät zum auslöschenden Kranken gekommen zu sein. ‹Anton›, rief sie mit hohler und doch sich rühmender Stimme, ‹ich komme, ich bin da!› In den Sessel, auf den ich zeigte, ließ sie sich fallen. ‹Hoch wohnst du, hoch wohnst du›, sagte sie stöhnend. Tief in meinem Lehnstuhl nickte ich. Zahllos hüpften vor meinen Augen die Treppenstufen auf, die zu meinen Zimmern führten, eine hinter der andern, unermüdliche kleine Wellen. ‹Warum so kalt?›, fragte sie, zog ihre langen alten Fechterhandschuhe aus, warf sie auf den Tisch und sah mich, den Kopf geneigt, augenzwinkernd an. Mir war, als sei ich ein Spatz, übe auf der Treppe meine Sprünge und sie zerzause mein weiches flockiges graues Gefieder. ‹Es tut mir von Herzen leid, dass du dich nach mir verzehrst. Oft schon sah ich aufrichtig traurig in dein abgehärmtes Gesicht, wenn du im Hof standst und zu meinem Fenster aufblicktest. Nun, ich bin dir nicht ungünstig gesinnt und hast du auch mein Herz noch nicht, so kannst du es doch erobern.›»

 

Das Dunkle ist Kafkas Domäne, wie es das Lebensthema von Ingeborg Bachmann und Paul Celan war. Nicht nur als Thema sondern auch als Schaffensprozess. Kafka forderte vom Schriftsteller: «Man muss wie in einem dunklen Tunnel schreiben, ohne dass man weiß, wie sich die Figuren entwickeln werden.» Kafka beschreibt seine eigene literarische Produktion als «unberechenbar». Seine Werke lassen sich nicht definitiv klar interpretieren – das haben sie mit den Träumen gemein.

 

Wer war dieser Franz Kafka? Er selbst hat wenig beigetragen, sein Leben nachzuzeichnen, obwohl Tagebuchnotizen und Briefe mit ungefähr 3.000 Druckseiten weit umfangreicher sind als das dichterische Werk. Sein «Brief an den Vater», 1919 formuliert, bringt ein wenig Helle ins Dunkel. Der Brief ist der Versuch, wieder Harmonie in die gestörte Beziehung zu bringen, oder wie Kafka schreibt, «uns beide ein wenig zu beruhigen und Leben und Sterben leichter zu machen» und auch in einem Tagebucheintrag von 1911 geht er auf seine Familie ein und ungewöhnlich ausführlich auf seine Vorfahren. Er spricht darin ausschließlich von der mütterlichen Linie. Seine Mutter liebte er, wenngleich auch sie wenig Verständnis für den schreibenden Sohn aufbrachte: den Vater fürchtete und hasste er.

 

Franz Kafka, Dr. Franz Kafka, der Versicherungsbeamte und Schriftsteller, lebte genau vierzig Jahre und elf Monate. Sechzehn Jahre und sechseinhalb Monate währte seine Schul- und Universitätsausbildung. Im Beruf war er vierzehn Jahre und achteinhalb Monate. Mit 39 wurde er pensioniert und starb an Kehlkopftuberkolose in einem Sanatorium in der Nähe von Wien. Er war kein großer Reisender. Im Ausland – so errechnete sein Biograph Reiner Stach – war er lediglich 45 Tage – in Zürich, Paris, Mailand, Venedig, Verona, Wien und Budapest. Er war dreimal verlobt, zweimal mit Felice Bauer, einer Berliner Angestellten, einmal mit Julie Wohryzek, einer Prager Sekretärin. Daneben gab es andere Liebesbeziehungen – und ganz wichtig – häufige Kontakte zu Prostituierten. Sein Werk umfasst etwa vierzig vollendete Prosatexte, ungefähr 350 Druckseiten, und 3400 Druckseiten Tagebuchnotizen und Fragmente. Er hat als Schriftsteller – und ich zähle seine Briefe zum schriftstellerischen Werk – ein Trümmerfeld hinterlassen. Sein Leben ist ein tristes, weil es ihm nicht gelang, irgendeines seiner Probleme wirklich und dauerhaft zu lösen. Er schlug sich immer und dauernd mit denselben Missliebigkeiten herum. Es ist eine statische Existenz, geprägt vor allem vom Vaterkonflikt, vom Judentum, von seiner Krankheit, seinem Kampf um Ehe und seinen Schwierigkeiten mit der eigenen Sexualität.

 

Kafka kam aus diesem Zirkel, aus diesem Unglückskreis nie heraus, wahrscheinlich weil er jede Wahrnehmung mit derselben Gründlichkeit bedachte, analysierte und das Wichtige nicht von dem Unwichtigen zu unterscheiden sich anschickte. «Alles gibt mir gleich zu denken» – dieses Bekenntnis erklärt, dass er auch, was ihm im Leben begegnete, nie als Gegebenes akzeptierte, er übersetzte Leben in Literatur. Sein Werk ist chiffrierte Wirklichkeit, deshalb finden wir, bei genauer Lektüre, die Spuren und die Verletzungen dieses Lebens auch in seinen Erzählungen und seinen Romanen. Es ist wie bei Beckett: Wir entdecken in seinen Texten die Lebensspuren.

 

Etwa 1897/98 begann Kafka zu schreiben. Über diese Werke spottete er bereits wenige Jahre danach – er hat diese Texte übrigens vernichtet – sie seien Schwulst gewesen. In einem erhaltenen Text wird deutlich, dass er sich schon in dieser Frühzeit mit weltanschaulichen Problemen herumschlug und über das Schreiben an sich nachdachte. 1901 macht der überaus begabte Kafka sein Abitur – und fuhr für einige Wochen nach Norderney und Helgoland. Ursprünglich wollte er danach Philosophie studieren, was dem Vater gewiss missfallen hätte, begann dann aber mit seinem Freund Oskar Pollack ein Chemiestudium. Wie wichtig Kafka die wenigen Freunde waren, die er in der Schulzeit und später gewann, zeigt übrigens ein Hinweis in einem 1903, also zwei Jahre nach dem Abitur, verfassten Brief: «Untereinander sind die Menschen durch Seile verbunden, und bös ist es schon, wenn sich um einen die Seile lockern und er ein Stück tiefer sinkt als die andern in den leeren Raum, und grässlich ist es, wenn die Seile um einen reißen und er jetzt fällt. Darum soll man sich an die andern halten.» Das Chemiestudium langweilte ihn – schon nach vierzehn Tagen; und er begann ein Jurastudium, womit er wohl auch seinen Eltern gefallen wollte. Kafka hörte lediglich die vorgeschriebenen Vorlesungen und wurde nach der geforderten Mindestzahl von acht Semestern zum Dr. jur. promoviert. Das war 1906. Inzwischen hatte er Max Brod kennengelernt und Franz Brentano, Oskar Baum und Felix Weltsch. Danach machte er ein Jahr lang die sogenannte Rechtspraxis, ein für alle Juristen des Staatsdienstes vorgeschriebenes gerichtliches Praktikum. Wie ihm diese Arbeit gefallen hat – wir wissen es nicht, überliefert hat er nur, dass er während dieser Zeit literarisch nichts fertiggebracht habe.

 

Seine Berufswahl war ihm herzlich egal, es musste nur eine Tätigkeit sein, die ihm die Unabhängigkeit vom Elternhaus sicherte und die ihm gleichzeitig genügend Zeit ließ zum Schreiben. Der erste Job erfüllte diese Bedingungen noch nicht: 1907, im Oktober, wird er Angestellter der Assecurazioni Generali am Wenzelplatz:

 

«Mein Leben ist ganz ungeordnet. Ich habe allerdings einen Posten mit winzigen 80 Kronen Gehalt und unermesslichen 8-9 Arbeitsstunden, aber die Stunden außerhalb des Bureaus fresse ich wie ein wildes Tier. Da ich bisher gar nicht gewohnt war, mein Tagesleben auf 6 Stunden einzuschränken, und ich außerdem noch Italienisch lerne und die Abende dieser so schönen Tage im Freien verbringen will, komme ich aus dem Gedränge der freien Stunden wenig erholt heraus. Ich weiß keine Geschichten, sehe keine Menschen, mache tägliche Spaziergänge in Eile durch vier Gassen, deren Ecken ich schon abgerundet habe, und über einen Platz, zu Plänen bin ich zu müde. Vielleicht werde ich von den ... Fingerspitzen aufwärts ... allmählich zu Holz ... Aber es ist nicht nur Faulheit, auch Furcht, allgemeine Furcht vor dem Schreiben, dieser entsetzlichen Beschäftigung, die jetzt entbehren zu müssen mein ganzes Unglück ist.»

 

Franz Kafka stirbt am 3. Juni 1924. Ende August erscheint Kafkas letztes Buch unter dem Titel «Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten». Aus ihnen und auch aus allen großen Romanen Kafkas – «Der Prozess», «Der Verschollene», «Das Schloss» – tönt Angst-Musik. In allen Briefen, allen Tagebuchnotizen nehmen wir den gleichen Kampf wahr für das Schreiben, gegen ein bürgerliches Leben. Kafka treibt der «Wunsch nach besinnungsloser Einsamkeit». Er will immer wieder nur sich selbst gegenübergestellt sein: «Ich werde mich bis zur Besinnungslosigkeit von allen absperren. Mit allen mich verfeinden, mit niemandem reden.» Nur sein Schreiben faszinierte ihn und peinigte ihn zugleich: «Alles, was nicht Literatur ist, langweilt mich und ich hasse es, denn es stört mich oder hält mich auf, wenn auch nur vermeintlich. Für Familienleben fehlt mir dabei jeder Sinn, außer der des Beobachters im besten Fall. Verwandtengefühl habe ich keines, in Besuchen sehe ich förmlich gegen mich gerichtete Bosheit. Eine Ehe könnte mich nicht verändern, ebenso wie mich mein Posten nicht verändern kann.»

 

Ein statisches Leben und ein Werk, das um wenige Themen nur kreist: um Schuld und Verbrechen, um Angst und Reue. Liebe hat darinnen keinen Platz.

 

C. Bernd Sucher

 


Das Programmheft zu «Das Schloss» ist erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als gekürzte Onlineversion zum Download hier.