«Also wenns jetzt noch schlimmer wird, dann is ganz schlecht.»

Das dramatische Werk des legendären bayerischen Autors, Regisseurs und Schauspielers Franz Xaver Kroetz, geboren 1946 in München, umfasst in etwa 60 erhaltene Stücke und kann durchaus als umfangreich bezeichnet werden. Zwei davon stehen aktuell auf dem Spielplan des Residenztheaters, nämlich «Der Drang» in einer Inszenierung von Lydia Steier und «Agnes Bernauer» in einer Inszenierung von Nora Schlocker.

 

In den 1970er-Jahren galt Kroetz als der meistgespielte deutschsprachige Gegenwartsdramatiker. Seine Stücke, bei denen er oft selbst Regie führte, wurden mitunter kontrovers diskutiert, lösten bisweilen Skandale und Proteste aus und verhalfen Kroetz zu einem hohen Bekanntheitsgrad, den er durch seine schauspielerische Tätigkeit festigen konnte. In den letzten Jahren wurden Inszenierungen seines dramatischen Werks auf deutschen und internationalen Spielplänen allerdings rar.

 

«Die Theater sind mir mit meinen Stücken nicht mehr gefolgt. Die letzten fünf, sechs Stücke sind, wenn sie überhaupt uraufgeführt wurden, nur ein paar Mal gespielt worden. Für mich war es eigentlich immer ein Traum, wenn ich ein Buch mit meinen Stücken, wie die Suhrkamp-Ausgaben, in der Hand halten konnte. Die wurden ja zu dieser Zeit mit einer Auflage von 200 000 bis 300 000 Stück gedruckt. Es war selbstverständlich, dass jährlich zwanzig bis dreißig Inszenierungen meiner Stücke allein im deutschsprachigen Raum gemacht wurden und die Stücke dann Fernsehspiele oder Hörspiele wurden. Ab 1996 hat sich das dann geändert.» (Franz Xaver Kroetz)

 

Das Volksstück «Der Drang», das Franz Xaver Kroetz 1994 an den Münchner Kammerspielen inszenierte, hatte zum Zeitpunkt seiner Uraufführung eine knapp zwanzigjährige Entstehungsgeschichte hinter sich, denn es handelte sich nach «Kalte Bauern» bereits um die zweite Bearbeitung von «Lieber Fritz», uraufgeführt 1975. Während «Lieber Fritz» aus 17 Szenen bestand, kamen in «Der Drang» 15 weitere dazu, der titelgebende Fritz geriet etwas in den Hintergrund, das Ehepaar Hilde und Otto büßten einen Sohn ein, mutmaßte stattdessen aber über die zu diesem Zeitpunkt viel Angst auslösende Krankheit Aids.

«Damals hatte man viele homosexuelle Freunde, die an Aids gestorben sind. Zu dieser Zeit gab es auch noch den §175, da war Homosexualität noch strafbar. Es hat sich viel getan, und die Gesellschaft wurde auch auf dem Land liberaler. Aber ich habe das Gefühl, dass die Herrschaften, die diese Gesellschaft beherrschen, liberal zu sein nur dort zulassen, wo es nichts kostet. Denn dort, wo es sie was kosten würde, da drücken sie sich. Aber darüber müsste man ein neues Stück schreiben.» (Franz Xaver Kroetz)

 

Dennoch ist «Der Drang» kein Stück, dem die geschilderten kleinbürgerlichen westdeutschen 1980er-Jahre auf eine Art eingeschrieben sind, die nahelegten, dass das Stück heute aus der Zeit gefallen ist. Denn die Sehnsucht der Figuren nach Entgrenzung, Ekstase und Rausch ist so alt und neu wie die Menschheit. Und so wird am Ort der Handlung – einer Friedhofsgärtnerei – dem Dionysischen gehuldigt, als gelte es damit die (eigene) Sterblichkeit außer Kraft zu setzen. Sowohl das bigotte Ehepaar Hilde und Otto als auch deren frivole Angestellte Mitzi lassen – ausgelöst von Hildes aus dem Gefängnis entlassenem Bruder Fritz – ihrem Drang freien Lauf und selten schien die assoziierte Nähe des kleinen Todes zum großen so sinnfällig in Szene gesetzt.

 

Auch wenn «Der Drang» im Einsatz der Theatermittel zu greller Überzeichnung findet, sind die Figuren in Franz Xaver Kroetz‘ Stücken immer der Realität abgeschaut. Dass sie dabei zur Kenntlichkeit entstellt sind, liegt auch an der Kroetz‘schen Sprache: Die Kroetz-Figuren sprechen eine an den bayerischen Dialekt angelehnte Sprache, die jedoch jeder versimpelnden Gemütlichkeit radikal entkleidet ist, quasi ein «Verkehrsbayerisch», geformt zu einem Kunstdialekt.

 

«Ich habe so oft zu Schauspielern, die aus Bayern waren, gesagt: «Was du aus deiner Maultrommel rausholst, interessiert mich einen Scheißdreck. Du meinst, weil du einen Dialekt kannst, brauchst du nicht zu denken, jetzt machen wir´s mal andersrum – du denkst und hältst das Maul. Jetzt spielen wir mal und du denkst die Sätze nur und sagst nichts.» Das hat die Schauspieler verärgert und sie auch verstört, aber es hat manchmal etwas bewirkt. Das hat ein paar Mal sehr gut funktioniert, wie bei «Der Drang», den ich an den Kammerspielen mit Edgar Selge inszeniert habe. Der kann auch kein Bayerisch, aber der hat das kapiert, dass man eine Leidenschaft für diese Sprache entwickeln kann. Man kann sich da hineinwerfen und das kriegen, man muss es nur wie eine andere Sprache behandeln. Es hat aber nicht immer funktioniert und es war des Öfteren so, dass ich dachte, es ist grauenhaft. Keiner sagt einen ehrlichen Satz und alle melodisieren. Eigentlich hasse ich den Dialekt.» (Franz Xaver Kroetz)

 

«Agnes Bernauer», das zweite Stück von Franz Xaver Kroetz, das sich auf dem Spielplan des Residenztheaters findet, rekurriert schon im Titel auf das gleichnamige Hebbel’sche Original, folgt diesem aber nicht: Hebbel dient Kroetz quasi als Stofflieferant, lediglich Figurennamen und partielle Handlungsstränge bleiben erhalten. Der markanteste Unterschied zwischen Hebbels «Agnes Bernauer» und der sehr losen Kroetz’schen Motivübernahme ist, dass Kroetz seiner Agnes den Tod verweigert und sie in eine – wenn auch ungewisse, so doch wahrscheinlich positivere – Zukunft aufbrechen lässt.

 

«Das war eindeutig meiner Unterordnung geschuldet unter den kommunistischen Realismus – hätte ich beinahe gesagt. Wir wollten die Gesellschaft vorwärtsbringen, es sollte immer weitergehen und immer besser gehen. Es erschien mir kontraproduktiv, meine Kraft als Schriftsteller in ein Stück zu investieren, an dessen Ende der Tod steht. Ich wollte, dass die Menschen etwas lernen. Ich wollte die kommunistische Utopie in der Kunst verwirklichen.» (Franz Xaver Kroetz)

 

Auch wenn «Agnes Bernauer» kein didaktisches Lehrstück ist, ist dessen parabolischer Charakter dennoch Folge von Kroetz’ politischer Einstellung. Und da sich keine westdeutsche Bühne für die Uraufführung fand, stimmte Kroetz, der von 1971 bis 1980 Mitglied der kommunistischen Partei Deutschlands KPD war, zu, sein Stück 1977 in Leipzig uraufführen zu lassen.

 

«Agnes Bernauer» hat mit der DDR tatsächlich gar nichts zu tun. Es hat mit meinem Vater zu tun, hat mit meiner Mutter zu tun und den Erfahrungen im Nationalsozialismus. Ich habe versucht, mit Agnes eine Figur zu erschaffen, die aus Mitleid agiert. Wir haben alle mit politischen Mitteln gearbeitet. Und ich wollte Mitleid, also Empathie, als politische Kategorie verstehen.» (Franz Xaver Kroetz)

 

Constanze Kargl