REISE INS UNBEKANNTE
Dramaturgin Katrin Michaels über die Arbeit der Theatermacherin Anna Karasińska und «Was ich vergessen habe».
Wie erzählt man von Demenz? Wer kann Auskunft geben, von einer Reise, die sich in ihrem Verlauf zunehmend von Koordinaten löst, mit denen denen wir Nicht-Demente meist Bewusstsein und Identität zu definieren versuchen? Und wie vergewissern wir uns überhaupt, dass wir wir selbst sind? In «Was ich vergessen habe» geht es nicht um ein dokumentarisches Nachvollziehen von Fallgeschichten oder die realistische Verkörperung eines Zustands, den niemand auf oder hinter der Bühne je am eigenen Leib erfahren hat.
Die polnische Regisseurin und Autorin Anna Karasińska ist Spezialistin für Themen, die sich nur schwer in Worte fassen lassen und benutzt ihre ganz eigene Erzählweise, um dem Phänomen auf der Bühne nachzuspüren. «In meinen Stücken versuche ich eher, Gefühle auszulösen als eine Geschichte zu erzählen. Auf der Bühne sollen Situationen entstehen, die im Hier und Jetzt stattfinden.», beschreibt sie ihre Arbeitsweise. In ihren Stücken spielt das Ensemble zunächst keine fiktiven Rollen, die Spielenden behalten ihre eigenen Namen. Dass sie sich in imaginäre Situationen begeben, ist hier Teil einer Versuchsanordnung und wird mit einfachen Mitteln, ohne große Ausstattung hergestellt. Die Bühne wird in erster Linie zum Experimentierfeld für Fantasie – sowohl der Spielenden als auch der Zuschauenden.
Während sie seit ihrem Theaterdebüt 2015 regelmäßig mit Preisen ausgezeichnet (zuletzt für die beste Regie des Jahres beim Festival Boska Comedia 2023 in Krakau) und zu internationalen Festivals und Residenzen eingeladen wurde, hat sie keine klassische Theaterausbildung durchlaufen: Sie studierte Filmregie, Bildende Kunst und Philosophie und bildete sich in Techniken des zeitgenössischen Tanzes fort. Ihr Theatervokabular speist sich aus unterschiedlichsten Quellen und unterläuft oft übliche Erwartungen an den fiktiven Rahmen einer Theatervorstellung.
Die zeitweise Befreiung von unseren realitätsstiftenden Vorstellungen überhaupt ist grundlegendes Ziel ihrer Kunst und trifft sich hier mit dem Gegenstand des Stücks: «Das Gedächtnis fasziniert mich als magische Verbindung zwischen allem, das wir als menschlich ansehen. Es zu verlieren heißt nicht nur, Beziehungen zu verlieren, sondern auch die Identität und den Bezug zum ganzen Universum der Bedeutung. Das versuche ich auch in meiner Theaterarbeit: Dem Publikum die Gelegenheit zu geben, felsenfest geglaubte Erzählungen darüber, was die Realität ist, infrage zu stellen. Kunst ist für mich ein Mittel, um Menschen dazu zu bringen loszulassen. Ich denke, dass die Verunsicherung unserer Vorstellungen von Realität das wirkungsvollste Mittel ist, die Welt zu verändern.»
Im Vorfeld der Probenarbeit reiste Anna Karasińska gemeinsam mit dem Journalisten Jürgen Berger, der das Projekt initiiert hat, in eine deutschsprachige Demenzeinrichtung im thailändischen Baan Kamlangchay. Sie begleiteten den Alltag der Bewohner*innen, interviewten Angehörige und Pflegepersonal – und stellten fest, dass sich der Demenz-Alltag auch in paradiesischer Kulisse wenig von dem hierzulande unterscheidet. Die Szenen, die hieraus entstanden, sind nicht unbedingt offensichtlicher Natur: Die demente Profi-Tennisspielerin Inge; Kurt, der glaubt um die 30 zu sein; die Kriegserinnerungen, die im Gespräch mit der Warschauer Regisseurin plötzlich auftauchten; die thailändische Geisterwelt, die fließende Grenze zwischen dem Reich der Lebenden und dem der Toten – das alles wurde zu Motiven, die dem Leben abgelauscht sind und doch auf der Bühne eine absurd anmutende Komik entwickeln.
Den Versuch, sich gemeinsam mit dem Publikum die Herausforderungen einer Demenzerkrankung vorzustellen, unternimmt auf der Bühne eine Gruppe von Menschen aus unterschiedlichen Generationen. Sie bringen ihre jeweils ganz persönlichen Erfahrungen ein und probieren den Facetten des Lebens mit schwindendem Gedächtnis und körperlichen Einschränkungen mit Hilfe unterschiedlicher Techniken und nicht zuletzt Humor eine Gestalt auf der Bühne zu geben – und die Schönheiten, Zärtlichkeiten und Abgründe zu entdecken, die hier lauern.
Mehr zum Stück finden Sie im Programmheft der Produktion. Das Programmheft ist erhältlich im Foyer oder als Onlineversion zum Download hier.