DAS ABTASTEN DER BRÜCHE

Ein Gespräch mit der Regisseurin Luise Voigt und dem Dramatiker Björn SC Deigner

 

Brechts «Die Gewehre der Frau Carrar» (1937 in Paris von deutschen Geflüchteten uraufgeführt) galt in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg als eines der erfolgreichsten Stücke des Dramatikers. Heute ist seine «Carrar» kaum mehr bekannt. Luise, was hat dich als Regisseurin an diesem kurzen und irgendwie gar nicht so typischen Brecht-Stück interessiert? Warum lohnt es sich, dieses Schauspiel wiederzuentdecken?
Luise Voigt:
Es ist erschütternd nah an den Debatten unserer Zeit. Im Hinblick auf Waffenlieferungen, Aufrüstung, Pazifismus, Krieg und Frieden. Ich kann nicht sagen, dass ich erfreut war, hier ein so zeitgemäßes Stück zu entdecken, ich war eher schockiert, wie aktuell es ist, und dachte, offenbar wurden wir in etwas zurückkatapultiert, das ich für überwunden hielt – eine eher schmerzhafte Lese-Erfahrung.

Björn, dein Stücktext «Würgendes Blei» ist eine Fortschreibung und setzt dort ein, wo Brechts Schauspiel endet. Wie hast du dich diesem Stoff genähert? In welche «Zeit» führst du uns als Publikum, indem du die Geschichte der Frau Carrar fortsetzt bzw. fortschreibst?
Björn SC Deigner:
Mir wurde schnell offenbar, dass in Brechts Text eine Aktualität liegt, der nichts hinzuzufügen ist. Zugleich spricht er aus einer anderen Kriegserfahrung heraus, als wir sie im Moment miteinander teilen. Mit der Fortschreibung wollte ich auf Ebene der Figuren den Stoff in die Jetzt-Zeit überführen und dabei Phänomene und Ereignisse wachrufen, die zu uns sprechen. Wenn man so will: die Carrar zu uns ziehen.

Luise, du hast für den ersten Teil des Abends – also für Brechts Stücktext – mit deinem Team und dem Ensemble eine ganz besondere Form entwickelt. Sie unterscheidet sich deutlich von der des zweiten Teils. Wie würdest Du diese unterschiedlichen Formen und die Bewegung, die der Abend dadurch nimmt, beschreiben?
Luise Voigt: Ich möchte dem Publikum für Brechts Stück eine ähnliche Erfahrung ermöglichen, wie ich sie beim Lesen gemacht habe. Ein alter, vielleicht verstaubt anmutender Text erwischt mich auf einmal kalt, die Vergangenheit sucht mich heim. Also inszeniere ich Brechts „Carrar“ stark historisch überformt. Quasi Brechts berühmter Verfremdungseffekt, in abgewandelter Form.
Der zweite Teil fragt dann nach den konkreten Konsequenzen. Was heißt es für die Figuren, in den Krieg zu ziehen? „Würgendes Blei“ fragt das ganz überzeitlich. Uns spricht Björns Text in vielen Aspekten aus der Seele, wie man so schön sagt, und wir versuchen ihn so direkt wie möglich in den Raum zu stellen, um mit dem Publikum zu verhandeln, was auf dem Spiel steht.

Im Zentrum beider Stücktexte steht eine Frau, die versucht, sich und ihre Kinder bzw. Söhne vor dem Krieg zu schützen. Was ist das Besondere an der Perspektive einer um Sicherheit und Leben ihrer Kinder besorgten Mutter.
Luise Voigt: Der Krieg aus der Sicht einer Mutterfigur führt uns in den Kern seiner Monstrosität, an den letzten Schmerzpunkt. Jedes Menschenleben, das der Krieg auslöscht, hinterlässt Liebende in unvorstellbarem Schmerz. Die Mutter ist Symbol dafür und wenn selbst sie keinen anderen Weg mehr sieht, als Krieg zu führen, hat die Logik der Gewalt die Oberhand.

Björn, dein Stücktext führt Brechts Figuren weiter. Dabei legst Du ihnen eine leicht angehobene, verdichtete Sprache in den Mund. Ist das eine Art der poetischen “Verfremdung” oder wie würdest du diesen sprachlichen Gestus beschreiben? Ich finde ihn ganz erstaunlich, zumal sich bei den Proben gezeigt hat, dass sich hinter allem Poetischen schroffe Realität verbirgt. Würdest du dem zustimmen?
Björn SC Deigner: Ich glaube daran, dass es zur Benennung von heutigen Phänomenen auf dem Theater eine eigene Sprache braucht, die beim Zuschauen fordert und auffordert. Zugleich soll sie aber auch einladen, dem zu folgen, was verhandelt wird. Daraus ist eine dichte Sprache entstanden, die nicht Selbstzweck ist, sondern konkret über Zerstörung und Gewalt im Kriegsgeschehen spricht. Zugleich versucht sie aber auch die Angst vor Verlust oder die Suche nach Möglichkeitsräumen zu benennen.

In deiner Fortschreibung tritt neben Figuren aus Brechts Stück auch ein Chor auf, “der alles außer Teresa Carrar darstellen kann”. Welche Rolle spielt dieser “Chor”?
Björn SC Deigner:
Auf eine Art ist der Chor eine Weiterführung von Brechts Gedanken zum Theater mit heutigen Mitteln. Diese Gemeinschaft, die da auf der Bühne steht, stellt einen Bezug zum Publikum her. Zugleich ist der Chor immer auch der Stimmraum derjenigen, die nicht mehr sind. Der Chor ist also ein seltsam schillerndes Wesen, das Figuren begleiten kann, deren Handeln kommentiert und zugleich auch empathisch sein darf mit jenen, die er verfolgt.

Brecht notierte 1938, man könnte sein Stück beispielsweise zusammen mit einem Dokumentarfilm über den Spanischen Bürgerkrieg zeigen. In eurem zweiteiligen Abend treten Vergangenheit und Gegenwart in einen beunruhigenden Dialog. Brechts Entschiedenheit steht neben Ratlosigkeit und verzweifelter Anklage. Beides scheint gleich zutreffend zu sein. Ist Theater für euch ein Raum, in dem sich die Widersprüche unserer Gegenwart zeigen?
Björn SC Deigner:
Für mich ist Theater Ort der Verhandlung. Hier kann mit kühlem Kopf aber auch ganz emotional ausgehandelt werden, was uns betrifft. Dabei ist das Abtasten der Brüche und Risse für mich oft hilfreicher als die Suche nach Antworten auf die Fragen, die uns die Welt stellt.
Luise Voigt: Nicht nur ich bzw. wir als Team sehen uns umzingelt von politischen Schwelbränden, die näher und näher rücken, und die Bilder der Kriege sind kaum noch zu ertragen, sie dringen in uns. Wir können die Widersprüche nicht auflösen, aber wir können die Karten auf den Tisch legen. Ich denke, gerade jetzt sollte sich das Theater als Ort der Verhandlung, wie auch Björn es nennt, sehr ernst nehmen.


Eine leicht gekürzte Version dieses Gespräches findet sich auch im Programmheft zur Inszenierung. Die Fragen stellte Ewald Palmetshofer.