«SEI DU SELBST!» EXPANSIONSBEWEGUNGEN EINES RASTLOSEN

EIN GESPRÄCH MIT SEBASTIAN BAUMGARTEN

 

Henrik Ibsens «Peer Gynt» hat auf den Spielplänen der deutschsprachigen Theater immer wieder Konjunktur. Worin gründet deiner Meinung nach diese Erfolgsgeschichte?

Ein Punkt ist die hohe Ambivalenz der Figur Peer Gynt, mit der man sich, zumindest in traditionellen Denkmustern, sehr gut identifizieren kann. Dabei darf man nicht übersehen, dass Henrik Ibsen mit Peer Gynt eine Figur geschaffen hat, die den damaligen Vorstellungen des klassischen Heldentums ganz und gar nicht entsprach. Das ist für uns heute nicht mehr in allen Teilen so lesbar, aber es war die Intention zur Entstehungszeit. Der zweite Punkt ist, dass «Peer Gynt» ein weltumspannendes Werk ist. Es geht einmal um die Erde und durch die Zeiten hindurch und reflektiert dabei eine Art Industriegeschichte. «Peer Gynt» ist ein in jeder Hinsicht umfangreiches Material und ähnelt Goethes «Faust», von dem strukturell vieles abgenommen ist.

 

«Peer Gynt» gilt ja als «Faust des Nordens». Du hast Goethes «Faust» 2007 am Schauspiel Hannover inszeniert. Inwiefern ist der Vergleich denn treffend?

Er ist sehr treffend. Strukturell gibt es in beiden Werken jeweils zwei Teile, dabei kann man sagen, dass der erste Teil die kleine Welt ist, der zweite Teil die große Welt. Mit kleiner Welt ist in «Peer Gynt» das Territorium um den Gudsbrandhof gemeint, in dem der ganze erste Teil, der erste, zweite und dritte Akt, spielt. Im vierten Akt geht es dann in Zeit und Raum hinaus, was Goethes «Faust II» entspricht. Das Interessante und das Tolle ist, dass Ibsen «Faust» subversiv weiterentwickelt: Gegen unsere schwere, klassische, immer mit «deutscher Bedeutsamkeit» daherkommende Literatur versucht Ibsen, etwas Leichtes zu schreiben, den Humor nicht zu vergessen und der Schwermut auch mal das Groteske oder Surreale entgegenzusetzen.

 

Henrik Ibsen bedient sich aus dem Fundus der norwegischen Volksdichtung. Das gilt sowohl für seinen Protagonisten Peer Gynt als auch für Figuren wie etwa den Dovre-Alten oder die Trolle. Wie nähert man sich dieser märchenhaften Ebene des Stücks?

Ja, tatsächlich ist dieses Werk diesbezüglich, weit mehr als Goethes «Faust», ein Hybrid. Auf der einen Seite operiert Ibsen mit den Sterotypen des Märchens. Auf der anderen Seite gibt er dem Stück eine filmische Farbe – durchaus im Sinne des damaligen Verständnisses von Soziologie und Psychologie. Das heißt, das dramatische Material schillert zwischen dem Archetypischen und einer sehr präzisen, realistischen Beschreibung. Ich glaube, das Entscheidende für unsere Arbeit ist die Frage, was in Märchen kulturell eigentlich verarbeitet wird als gesellschaftliches Überdruckventil, als Verarbeitungskammer, als literarisch überformte Aussage des eigenen Selbstverständnisses und der eigenen Ängste.

 

Inwiefern lassen sich an Peer Gynts Aufstiegsvita vom verarmten Bauernsohn zum globalen Spekulanten mit größenwahnsinnigen Kolonialisierungsfantasien Verbindungslinien in die Gegenwart ziehen?

Auch darum funktioniert der Stoff so gut, weil er genau das macht: Er zeigt einen Zusammenhang zwischen einem bestimmten, hoch narzisstischen Persönlichkeitstyp und einer Erfolgsgeschichte. Die Verbindung zwischen den beiden herzustellen, ist, glaube ich, auch unsere Aufgabe. Unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen hat so ein Narzisst Platz und Raum? Hinzu kommt, dass Ibsens Norwegen damals sehr dünn besiedelt und wenig entwickelt war, wohingegen wir heute ein ganz mordernes Norwegen vor uns haben, das beispielsweise auf den sogenannten Trollfeldern Gas fördert. Gas, das dieses Land sehr reich und sehr modern gemacht hat, erstens natürlich industriell und technologisch, zweitens im Sinne des Kapitals, drittens in seiner Soziokultur. Die Dimension der Entwicklung, die Ibsen im Intervall seiner Lebenszeit sieht, wird einfach noch exponentiell größer, wenn wir das Intervall von Ibsens Lebenszeit bis ins Heute ziehen.

 

Namhafte Vertreter der Psychoanalyse beschrieben Peer Gynts Narzissmus als die ihn treibende Kraft. Peer ist ständig auf der Suche nach seinem wahren «Gynt’schen Ich» und muss letztendlich feststellen, dass er keinen eigentlichen Kern besitzt. Beides wirkt unglaublich heutig.

Wenn man das Stück analysiert, dann sieht man zunächst erst mal: Die Figur hat ein Problem. Sie weiß, sie kommt nicht zu sich selbst. Nun bleibt die Frage, was heißt denn das eigentlich, zu sich selbst zu kommen, und geht das überhaupt? Von 2023 aus betrachtet gäbe es viele Theorien, die besagen, diese Kernsuche ist ein Stück weit sinnlos, weil es den Kern gar nicht gibt. Aber zu Ibsens Zeit gilt es als Mangel, dass jemand nicht bei sich ist und nicht zu sich findet und genau deswegen nie die letzten Schritte tätigt, die eigentlich notwendig wären, um entweder seine Karriere zu bewegen oder in diesem Leben vielleicht auch einmal anzufangen, etwas sinnvolles Gemeinstiftendes zu tun. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Der andere Punkt ist aber, dass dieser narzisstische Charakter natürlich sehr gut in die ökonomischen Bedingungen der Zeit passt. Denn ein Narzisst hat natürlich vor allen Dingen einen – wenn auch nicht ungebrochenen – Blick auf sich selbst. Dieser Egoismus passt einfach zum Markt- und Verdrängungsverhalten, da passen zwei Sachen zusammen. Das ist immer etwas, was mich an Theaterstoffen sehr interessiert, wenn sie das Private und das Politische auf zwei Ebenen mitbedienen. In diesem Fall ist es so, dass wir im ersten Teil sehen, wie diese narzisstische Persönlichkeit in ihrer jugendlichen Entwicklung entsteht oder zu dem wird, was man dann häufig positiv «Charakter» nennt. Dabei müsste man eigentlich gerade das kritisieren, um dann mit diesen festen Säulen der Deformation in einen globalen Markt reinzugehen, der vom Sklavenhandel über Ressourcenverschwendung bis hin zum Steuerbetrug alles beinhaltet, was man sich vorstellen kann. Spätestens da kommt die Figur natürlich im Heute an. Es wäre darum schade, wenn die Inszenierung dabei stehen bliebe, Peer Gynt bloß als einzelnes Individuum zu begreifen. Denn dadurch würden wir die gesellschaftliche Problematik von uns wegweisen. Spannender und wichtiger ist es, Peer Gynt als eine Art Grundtypus zu behandeln, hinter dem eine als männlich identifizierte Praxis der Aneignung steht. Am Ende muss Ibsens Kritik an dieser Form von Männlichkeit untersucht werden, die wir heute zwar nicht mehr so deutlich lesen können, die von Ibsen aber schon so gemeint war. Er verhält sich gegenüber seinen Zeitgenossen, den Meisterautoren seiner Zeit, wirklich kontrovers und hat es gar nicht leicht, mit dieser Position durchzukommen. Interessanterweise sucht er speziell in diesem Stoff eine Form, die er nie wieder verwenden wird, nämlich das dramatische Gedicht, denn «Peer Gynt» war ja gar nicht als Theaterstück im eigentlichen Sinne gedacht.

 

Ibsen interessieren vor allem die psychischen Folgen globaler Expansion auf das Individuum. Trotz expansiver, jahrzehntelanger Reise- und globaler Handelstätigkeit ist Peer Gynt ein «Monument der Unveränderbarkeit». Warum verändert sich dieser Mensch nicht?

Als kurze Fußnote: Wenn man sagt, Ibsen beschäftigt sich mit den psychischen Auswirkungen dieser Expansionsbewegung, die eine gesellschaftliche ist, kann man gleichzeitig auch umgekehrt rückkoppelnd fragen, welche psychische Ordnung gehört dazu, um diese Expansivität zuzulassen oder sogar noch zu unterstützen. Das ist für mich ein ganz wichtiger Zusammenhang. Darüber hinaus glaube ich, dass hier tatsächlich der Dramatiker Ibsen am Werk ist, der für sein Stück einen unvollendeten Konflikt braucht. Der Konflikt besteht darin, dass diese Figur irgendwie eben nicht zu einer Auflösung kommt, bis zum Schluss nicht. Es geht immer um die zwei großen Setzungen in seinem dramatischen Material. Die eine ist «sei du selbst» und die andere «sei dir selbst genug». «Sei dir selbst genug» ist die Maxime der Trollwelt, wenn man so will, wobei «sei du selbst» die natürlich auch aus dem Bürgertum kommende Frage danach ist, wo ich ident mit mir selbst bin. In dieser Diskrepanz bewegt sich die Figur und natürlich ist es für einen Autor wichtig, dass er dieses Spannungsfeld solange wie möglich aufrechterhält. Damit wäre meine Antwort auf deine Frage: Es ist eigentlich eine dramentechnische Entscheidung Ibsens, diesen Konflikt nicht aufzulösen. Er tut es ja auch dann nicht, und das ist das Interessante, wenn diese unaufgelöste Figur am Ende zu einem Kind im Schoß einer Mutterfigur regrediert. Wobei man auch nicht vergessen darf, wie viel Autobiografisches in dem Stück steckt, weshalb ich glaube, dass Ibsen sich die «Schutzform» des dramatischen Gedichts und das Überbordende gerade sucht. Das bewegt uns auch bei den Proben, diesen epischen, überschießenden, erzählerischen Anteil nicht zu kurz kommen zu lassen.

 

Ibsen bezeichnete sein «dramatisches Gedicht» als «wild und formlos». «Peer Gynt» ist als lebenslange Reise eines Rastlosen enorm personalintensiv und springt über den Globus und durch die Jahrzehnte. Wie geht man beim Inszenieren mit diesem in jeder Hinsicht ausufernden Stück um?

Erst einmal macht das einen Riesenspaß. Es ist ja toll, wenn man sagt, jede Szene entwirft eine neue Welt, die man sich erschließen und szenisch (er)finden muss. Das alles hat etwas mit Fantasie zu tun und das ist, womit wir uns hauptberuflich beschäftigen. Für die Spieler*innen und für mich ist das erst einmal super. Aber da ist eine interessante Tatsache, die uns eigentlich erst durch die Arbeit klar wurde. Diese ganzen sehr ins Auge springenden Welten, die durchaus im Rahmen des ausgehenden 19. Jahrhunderts unter dem Thema Kolonialismus zu finden sind, sind lediglich «Projektionsflächen»: Ägypten und Marokko sind für Ibsen nämlich Bilder kolonisierter Länder, die er stets mit Norwegen abgleicht, welches wechselseitig von Schweden und Dänemark besetzt wurde und sich als fremdbestimmt verstand. Hauptsächlich geht es Ibsen darum, mithilfe dieses Kunstgriffes sich selbst und die eigene Gesellschaft in den Blick zu bekommen, um sich im dichterisch Verfremdeten selbst zu erkennen.


Das Programmheft zu «Peer Gynt» ist erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als gekürzte Onlineversion zum Download hier.