KOSMOS «MOBY DICK»
Dramaturg Ewald Palmetshofer über das Beglückende an Melvilles Meisterwerk
Die sogenannten Klassiker der Weltliteratur, vor allem, wenn sie in gewichtiger Ziegelform daherkommen wie dieser «Moby Dick», können einem durchaus ein bisschen Angst einjagen. Zumindest geht es mir so. Hat man ausreichend Sitz- oder Liegefleisch für mehr als achthundert Buchseiten? Ist das Leselicht gut genug? Und vor allem: Reicht die imaginäre Wissensbrille, um das Monstrum auch zu verstehen? Man könnte meinen, dass es einem Melvilles Roman da besonders schwermachen würde. Wer ist denn schon Walfänger*in, wer in der Nautik bewandert? Und das Papier mancher Ausgaben ist so dünn wie Bibelseiten! Doch Melville nimmt sein (Lese-)Publikum an die Hand, führt es an den Hafen von Nantucket und lässt es gemeinsam mit seinem Erzähler Ismael in See stechen. Alles, was man wissen muss, bekommt man an Bord / im Buch erklärt: ausufernde Abhandlungen über den Wal, seine überwältigende Physis und deren grenzenlose Ausbeutung auf den Meeren der Welt.
Melville wickelt einen ins Seemannsgarn einer scheinbaren Abenteuergeschichte und sprengt diese Gattung über weite Strecken völlig auf. Im überbordenden Wust an Exkursen, Reflexionen, inneren Monologen und Szenen, die sogar wie Bühnentexte inklusive Regieanweisungen auf den Buchseiten angeordnet sind, gerät die scheinbar eigentliche Handlung manchmal völlig aus dem Blick. Wie Flauten auf See. Und tagelang kein Wal in Sicht.
ENTER AHAB
Mit dem Auftritt von Kapitän Ahab und der Ausrufung seines persönlichen Rachefeldzugs gegen den mysteriösen weißen Wal betritt schließlich ein menschlicher Dämon, als wäre er Shakespeares «King Lear» und/oder «Richard III» entsprungen, die Bühne. Die schwimmende Walfabrik wird zum Palast und das von der industriellen Befehlskette an Bord verschleierte Politische wird manifest. Doch das eigentliche Begehren dieses Autokraten ist – wie sich zeigen wird – mit politischen Kategorien nicht zu fassen. Und während sich die Erzählung Ismaels von der Jagd auf Ahabs Erzfeind und der Einschwörung der Besatzung der «Pequod» auf dieses alleinige, obskure Ziel fortspinnt, überflutet einen Melville mit immer neuem Material. Irgendwann treibt man auf einem regelrechten Meer möglicher symbolischer Bedeutungen, Zeichen und Chiffren. Dem Shakespeare-Forscher und Theatertheoretiker Jan Kott zufolge sind die Bedeutungen in Melvilles Roman jedoch nicht endgültig bestimmt. Der Kosmos «Moby Dick» ist derartig Sinn-offen, dass die Metaphern in Bewegung bleiben: So könnte der weiße Wal etwa Metapher einer rächenden Gottheit oder aber satanischer List sein – oder doch vielleicht ein Bild der geschundenen, ausgebeuteten Kreatur bzw. gar der Natur selbst. Ist die sinkende «Pequod» Sinnbild für den menschlichen Naturbeherrschungswillen oder gar für den Planeten Erde als durch menschliche Zerstörung und Ausbeutung dem Untergang geweihter Lebensraum? Oder ist sie vielleicht selbst ein Leviathan, ein von Menschen gemachtes (Staats-) Wesen, ein Ressourcen-Regime kurz vor seinem Niedergang? Vielleicht ist gerade diese Bedeutungsoffenheit das Beglückende an Melvilles Meisterwerk: Dass jede Lesebrille taugen kann, dass man vielen Bedeutungssträngen folgen kann, dass jeder Weg durch dieses Labyrinth Erkenntnisse zutage fördert und immer hinaus in die Welt führt. So betrachtet, war die eingangs beschriebene Angst wohl unbegründet. Und was das Sitzfleisch betrifft, so kommt ihm zumindest im Theater eine Polsterung entgegen. Im doppelten Wortsinn.
Ewald Palmetshofer
Das Programmheft zu «Moby Dick» ist erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als gekürzte Onlineversion zum Download hier.