Literatur als eine «andere» Geschichte

 

Autor Tom Silkeberg, dessen Bühnenbearbeitung von Tove Ditlevsens «Kopenhagen-Trilogie» im Marstall zu sehen ist, über Leben und Werk der dänischen Autorin.

 

 

Jeden Donnerstag hole ich meinen Sohn von der Tove-Ditlevsen-Schule ab, wo er wie alle zweisprachigen Kinder in Kopenhagen zum muttersprachlichen Unterricht geht. Die Schule ist in einem blutroten Ton gestrichen und liegt im Herzen von Vesterbro, wo Tove Ditlevsen aufwuchs. Auf dem Weg dorthin kaufe ich oft ein süßes Gebäck, ein so genanntes Teebrötchen, in einer Bäckerei in der Hedebygade, jener Straße, in der Ditlevsen in ihren ersten Lebensjahren wohnte. Doch in dem gutsortierten Laden erinnert nur noch wenig an die Bäckerei aus «Kindheit», vor dem die wartenden Kinder «eine gewundene Schlange entlang der Straße» bildeten. Überhaupt finden sich in dem wohlhabenden Vesterbro, in dem ich heute wohne, kaum noch Spuren jenes Stadtteils, in dem Tove Ditlevsen lebte. Hier thronen alle möglichen Statuen großer Männer; eine geschönte Geschichtsdarstellung. Was erinnert an die Armut und das Elend der Zwanziger- und Dreißigerjahre? Ich denke darüber nach, wie auffallend wenig Erinnerung ein Ort birgt.

 

Ursprünglich trug Tove Ditlevsens meisterhafte Kopenhagen-Trilogie die Genrebezeichnung «Erinnerungen». Und genau wie menschliche Erinnerungen bewegen sich die Bücher fragmentarisch – durch eine von Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit geprägte Kindheit, eine Jugend im Schatten des totalitären Nachbarlandes und des drohenden Krieges und weiter in eine Nachkriegszeit, in der das Geschehene eher verdrängt als aufgearbeitet wurde. Und nirgends gab es in dieser Geschichte einen Platz für Frauen. Jeder Raum, jede Zeit, gehörte den Männern. Tove Ditlevsen lernte schon früh, dass Geschichte nicht aus Erinnerungen besteht, sondern aus Übereinkünften. Warum, könnte man sich fragen, träumen wir so, wie wir träumen, was behalten wir von unserer Geschichte im Gedächtnis? Tove Ditlevsen stellt solche Fragen nicht. Was sie entdeckt, wofür sie sich interessiert, ist Literatur als eine «andere» Geschichte, Literatur als Erinnerung einer Erfahrung, die von der Geschichtsschreibung gerne vergessen wird.

 

Während ihres gesamten Berufslebens konnte Tove Ditlevsens Umfeld ihre vielen widersprüchlichen – erdichteten, würden manche sagen – Bewegungen zwischen Leben und Schreiben, diesen im Wind flatternden Vorhang zwischen ihrem Innenleben und der öffentlichen Person, nur schwer akzeptieren. So wie Ditlevsen in «Kindheit» beispielsweise ohne erkennbares Motiv behauptet, 1918 geboren worden zu sein, ein Jahr später als in Wirklichkeit. Ditlevsen war schon zu Lebzeiten berühmt. Oft gab sie skandalträchtige Interviews in Zeitungen und im Fernsehen. Daher kannten ihre Leser*innen die Geschichten über ihr Leben häufig schon, bevor sie in ihren Büchern auftauchten, was für ein aufregendes Zusammengehörigkeitsgefühl gesorgt haben muss. Doch aus Ditlevsens gesamtem Werk – von ihrem Debüt, dem Gedichtband «Pigesind» («Mädchenseele», 1939) bis hin zu den späten autofiktionalen Büchern – steigt ein starkes Gefühl von Einsamkeit auf, ein Eindruck davon, dass sie in einem Gegensatz zu der Wirklichkeit steht, die sie umgibt. Und wenn die Einsamkeit nicht aus ihrem Inneren entsprang, war sie häufig eine selbstgewählte Position. Wie nach dem Krieg, als die dänische Nation die Befreiung von der deutschen Besatzung feierte. Da schreibt Ditlevsen das Gedicht «Die deutschen Soldaten», das einen nüchternen Blick zurück auf ein Dänemark in Zeiten des Krieges wirft. Statt sich der eigenen Nation zuzuwenden, richtet sie ihre Augen auf die deutschen Soldaten.

 

«Sie haben wir hassen gelernt,

niemand versteht ihre Sprache,

und wenn wir ihrem Blick begegnen,

versiegeln wir den unseren wie ein Buch.»

 

Das Gedicht sorgte für große Empörung in einem Dänemark, wo Geschlossenheit und Einigkeit nach den Kriegsjahren wichtig waren. Ditlevsen konstatiert in ihrem Gedicht dagegen lakonisch:

 

«Doch bald befreien wir behutsam

Ein zitterndes Dänemark

Und bald marschieren die Staubstiefel

Zum letzten Mal am Tode vorbei

Und bald bleibt von sechs zehrenden Kriegsjahren

Nur noch der Hass.»

 

Es ist schwierig, ein vollständiges und gerechtes Bild von dem enormen Druck und der Verachtung zu zeichnen, die Tove Ditlevsen als Mensch und Schriftstellerin erdulden musste. Noch dazu litt sie unter einer wiederkehrenden psychischen Krankheit, die sie vor allem in ihrem Roman «Gesichter» (1968) schildert. Paradoxerweise fand sie oft ausgerechnet bei ihren Psychiatrieaufenthalten, wenn sie von der Umgebung abgeschirmt war, die Ruhe, die sie zum Schreiben brauchte. Und während eines solchen Aufenthalts begann sie auch «Kindheit» (1967).

 

Die drei Erinnerungsbände, die erst nachträglich als Trilogie präsentiert und veröffentlicht wurden, entstanden ursprünglich in zwei Teilen. «Kindheit» und «Jugend» schrieb Ditlevsen am Stück und erst vier Jahre später «Abhängigkeit» (1971). Allen dreien ist gemein, dass sie in der Zeit verfasst wurden, in der Ditlevsen mit ihrem vierten Mann zusammenlebte, dem seinerzeit öffentlich bekannten Chefredakteur Victor Andreasen, den sie am Ende der Trilogie kennenlernt. Sie waren das, was man heute wohl als «Promipaar» bezeichnen würde, und oft in den Schlagzeilen. Victor Andreasen half Ditlevsen voller Entschlossenheit aus der Medikamentenabhängigkeit, führte sie allerdings auch in eine andere Sucht, den Alkoholismus. In dem Buch «Über sich selbst» (1975) schreibt Tove Ditlevsen, was sie als die größte Gemeinsamkeit zwischen Victor und ihrer Mutter ansieht:

 

«Sie ähnelten einander geradezu unglaublich, diese beiden Menschen, die eine so große Bedeutung für mein Leben und damit auch für meine literarische Produktion haben sollten. Beide hatten etwas Leidenschaftliches, aber auch Unheilvolles an sich, das Kindern und ängstlichen Menschen Angst einjagen konnte; ein Wesenszug, der ihnen selbst gar nicht bewusst war. Auch ihre fehlende Selbstbeherrschung teilten sie. Sie konnten im Affekt die schrecklichsten Dinge zu anderen Menschen sagen und sie im nächsten Moment gänzlich vergessen. Das geschah weniger aus Bösartigkeit denn aus einem völligen Mangel an Einfühlungsvermögen, der vor allem bei dem sonst so hochbegabten Victor auffällig war. Ich rede in der Vergangenheitsform über ihn, obwohl er – als einer der wenigen – noch lebt.»

 

Ihre Ehe mit Victor Andreasen inspirierte eine Reihe von Büchern; der literarisch Kraftvollste darunter ist vielleicht ihr letzter Roman «Vilhelms Zimmer» (1975). Ditlevsen erzählt darin, wie Lise Mundus, ihr Alter Ego, das den Leser*innen bereits in «Gesichter» begegnet, von ihrem Mann verlassen wird.

 

Erinnerung und Fiktion, Erzählerin und Hauptperson, Chronologie und Ort verschwimmen in dieser einzigartigen Skizze über die Geographie einer Beziehung. Der Untergang der Ehe wird symbolisch repräsentiert, indem die Erzählerin ihr Buch schreibt, während die Handwerker die frühere Wohnung des Paares abreißen. Das Buch endet mit Lises Selbstmord.

 

1993 – viele Jahre nach Ditlevsens Tod – gab Victor Andreasen unter dem Titel «Kære Victor (Lieber Victor)» seinen Briefwechsel mit Tove Ditlevsen aus der Zeit nach der Scheidung heraus. Er sollte als Kommentar und Korrektiv zu «Vilhelms Zimmer» dienen und vor allem klarstellen, dass es sich um einen fiktiven Roman handelt, der nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Doch die Briefe betonten im Gegenteil sogar noch, dass Ditlevsens letzter Roman ein Genrehybrid ist, der sich unmöglich einordnen lässt.  

 

Tove Ditlevsen war in Dänemark bereits skandalumwittert, bevor sie die «Kopenhagen-Trilogie» schrieb. Aber so sehr sie vom literarischen Establishment geschmäht wurde, so sehr wurde sie von ihren Leser*innen, in erster Linie Frauen, geliebt. Wie Ditlevsen ihre eigene Biografie einsetzte – sich «erinnerte», würde ich am liebsten schreiben – war natürlich bahnbrechend: in der Zeitung als überaus populäre «Kummerkastentante» und als Kolumnistin (auch, indem sie in der Zeitung in einem «Nekrolog» ihrem eigenen Suizid vorgriff oder eine Kontaktanzeige veröffentlichte, noch bevor die Scheidung von Victor Andreasen öffentlich bekannt wurde) oder in Fernseh- und Radioauftritten, vor allem aber in ihrer Literatur. Sie war ihrer Zeit weit voraus, in dem sie sich selbst performativ als künstlerisches Werkzeug einsetzte und dafür einen hohen Preis zahlte.

 

Tove Ditlevsens Bedeutung als Chronistin der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse und als feministisches Vorbild ist enorm. Doch ihr Blick auf die Welt erinnert mich vor allem an den Blick einer Fremden, die in einer anderen Zeit lebt als alle anderen. Die ein anderes Tempo lebt, in einer anderen Geschichte. Die, genau wie die zweisprachigen Kinder in der Tove-Ditlevsen-Schule, durch ihre Gegenwart in der Welt zeigt, dass die Sprache der Mehrheit, die Geschichtsauffassung der Herrschenden nicht vollständig sind.

 

Die «Kopenhagen-Trilogie» ist ein kraftvoller Versuch, sich zu erinnern, wie es ist, ausgehend von seinem Körper und seiner eigenen Körperlichkeit identifiziert zu werden. Nicht weil die Ich-Erzählerin mehr Körper sein soll, sondern weil sie ein ums andere Mal zum Körper als einer materiellen Tatsache zurückkehren muss, die unmöglich zu übersehen ist: ein Körper zu sein, anstatt einen zu besitzen. Ob man will oder nicht, muss man als Leser*in darüber nachdenken, was das bedeutet. Und hat man es einmal getan, vergisst man es nie.

 

Tom Silkeberg, aus dem Schwedischen und Dänischen von Ursel Allenstein