Loquor ergo sum! – Ich spreche, also bin ich!
1999 erschien in Paris «Une Désolation» von Yasmina Reza. Ein Roman. Ein Monolog. Vielleicht auch ein überlanger Brief. Erzählt oder geschrieben von Samuel Perlman. Er ist 73 Jahre alt. Er ist Jude – wie viele Reza-Protagonisten. Er spricht zu seinem Sohn, unablässig, er liest dem Filius die Leviten. Der ist 38 Jahre jung und ein zeitlebens verwöhnter und erfolgloser Nichtsnutz, weshalb der Vater ihn als eine Alge beschimpft. «Eine Verzweiflung» – so der deutsche Titel – erinnert den Leser oder die Leserin an Kafkas Brief an seinen Vater – doch diesmal ist es eine Abrechnung eines Vaters mit seinem Sohn. Zum anderen erinnert er an Thomas Bernhards Texte. Schon der Titel ist bernhardesk.
Dieses Werk, inzwischen 24 Jahre alt, war und ist gnadenlos. Ein Vater verzweifelt über seinen Sohn, und er zweifelt am Sinn von Sein, von Da-Sein. Er sieht um sich herum nur zufriedene Menschen, die sich in ihrer Mittelmäßigkeit eingerichtet haben, die nichts wollen, als in Ruhe gelassen, gemächlich alt zu werden. Er hingegen will gestalten, will verändern. Ein Tatmensch. Reza beklagt eine schlappe Gesellschaft, sieht sich – wie Perlman wohl – umzingelt von bewusstseinslosen Glücklichen. Just deshalb äußert dieser durchaus grimmige Perlman gleich zu Beginn seinen größten Wunsch: Er möchte, dass sein Sohn ihm das Wort glücklich erklärt. Yasmina Reza konfrontierte einen erfolgreichen alten Menschen mit einem jungen Versager, den der Vater, auch das noch, als «Mein Kleiner» anspricht.
Schon dieser Roman zeichnete sich aus durch einen musikalischen Sog. Yasmina Rezas Erzählweise, dieses Crescendo und Accelerando, ist ungeheuer musikalisch. Überlange Sätze wie bei Marcel Proust und die Struktur der Wiederholungen und der Steigerungsformen sind denen von Thomas Bernhard nicht unähnlich. Auch der Österreicher liebte die monologische Form in vielen seiner Romane, auch im «Untergeher», den jeder Leser der Rezaschen Monologe mitdenkt. «Une Désolation» ist wirklich Wort gewordene Verzweiflung; und zugleich ist dieser Text sehr witzig. Denn Yasmina Reza spitzt wie Bernhard zu, auch sie übertreibt: «Man sollte Shorts in der Stadt verbieten; Shorts sollten nur in der freien Natur geduldet werden, einzig und allein in der freien Natur, und dazu in herbstlichen Farben; in der Stadt sollte man Shorts und glückliche Menschen verbieten.»
Ähnliche Bosheiten gibt es jetzt auch in «Anne-Marie die Schönheit», zum Beispiel diese: «Für mich ist eine schrille Stimme bei einer Schauspielerin dasselbe wie früher Plattfüße in der Armee. Du bist für das Metier nicht gemacht. Schluss aus.» Auch stilistisch ähneln sich beide Werke.
Aber es trennt die beiden monologischen Arbeiten auch vieles. Anne-Marie ist keine Jüdin; sie gehört nicht zur französischen Bourgeoisie. Ihre Mutter war Wäscherin in einem Hotel – das war bereits ein Aufstieg; begonnen hat sie als Arbeiterin in einer Spitzenwirkerei. Ihre Tochter Anne-Marie war, bevor sie endlich, eben jetzt, zu reden begann, eine ‹Untergeherin› und ist es noch immer. Aber sie ist nicht verzweifelt – obwohl sie allen Grund hätte, es zu sein: Anne-Marie Mille ist alt; sie hat ihren Mann schon verloren; ihr Sohn ist ihr weniger Hilfe als Last; ihr Leben war kein glückliches.
Yasmina Reza lässt den Leser oder die Leserin, die Zuschauerinnen und Zuschauer, im Ungewissen. Redet eine alte Frau mit sich – ist es ein innerer Monolog? Oder spricht sie zu jemand Fremden? Mal wendet sie sich an eine «Madame», mal an einen «Monsieur», mal an eine «Mademoiselle». Wer das Gegenüber sein könnte, Yasmina verrät es nicht. Sicher ist nur eines: Diese alte Frau redet sich schön, sie redet sich glücklich, sie redet sich in die Rolle, die sie als Schauspielerin, die sie war, nie angeboten bekommen hat; endlich ist sie Protagonistin und dominiert ihre Sprach- und Sprechbühne. Yasmina Rezas Anne-Marie redet, weil sie weiß: Ich rede, also bin ich.
Anne-Marie stellt sich erst einmal vor. Sie käme aus Saint-Sourd-en-Ger, einem Ort mit Kohleminen und einem Theater, der Comédie de Saint-Sourd. Sie kannte schon als junges Mädchen die Namen aller Schauspielerinnen und Schauspieler, sie hat sie bis heute nicht vergessen. Sie nennt sie am Anfang, sie nennt sie am Ende. Nein, Anne-Marie die Schönheit ist nicht dement, aber auffallend ist schon, wie oft sie sich wiederholt. Je öfter sie sagt, dass sie ein glückliches Leben gehabt hätte, desto weniger will man es ihr glauben. Und desto mehr mag man sie, denn sie belügt weder sich noch jene, die ihr vielleicht zuhören. Sie steht zu ihrem kleinbürgerlichen Leben, zu den Einkäufen im Monoprix, zu den Schwierigkeiten mit der Familie. Dass ihr Mann sie wahrscheinlich nicht betrogen hat, freut sie. Allerdings hat er sie, das ist die Kehrseite von Treue, sehr gelangweilt – lebenslang. Doch selbst das sei nicht schlimm gewesen: «Sie wissen ja, Langeweile gehört zur Liebe dazu.» Sie gibt zu, dass ihre Freundinnen keine Freundinnen waren. Sie steht dazu, dass sie keine Karriere gemacht hat. Nein, die Hauptrollen haben immer andere bekommen. Wohl auch, weil ihre Mutter recht behielt: Ihr Gesicht sei «nicht vorzeigbar» gewesen – und ist es wohl auch jetzt nicht. Lange Zeit schnitt sie, eben deshalb, aus Illustrierten die Fotos von Brigitte Bardot aus: «Ich schnitt sie aus und klebte sie in ein Album, das ich unsichtbaren Besuchern zeigte.» Schon zu dieser Zeit unterhielt sie sich mit sich: «Voller Bescheidenheit blätterte ich darin und erläuterte die verschiedenen Episoden aus meinem Leben, denn diese Schönheit war natürlich ich. Anne-Marie die Schönheit.» Sie steht dazu, dass sie immer verwirrter wird, ihre Brille in den Mülleimer geworfen und mit den Ofenhandschuhen Kompott aus dem Kühlschrank genommen habe.
Ohne Sentimentalität, ohne Selbstmitleid resümiert sie das Leben einer armen, unansehnlichen Schauspielerin, die gern eine Vedette geworden und gewesen wäre. Ihr Trost – und da hören wir die Schauspielerin und Regisseurin Yasmina Reza: «Auf der Bühne bleibt nichts von einem zurück. Der Bühne ist es vollkommen schnurz. Wer sich auf ihr bewegt. Giselle Fayolle oder Anne-Marie. Keine Spur von niemandem. Weder Geruch noch Schatten.» Diesen Gedanken schließt sie mit der Litanei: «Ich hatte ein glückliches Leben, wissen Sie.» Da ist Yasmina Reza, die Dramatikerin, ganz nah an Samuel Beckett, an «Glückliche Tage». Vergänglichkeit und Tod verlieren von ihrem Schrecken, wenn man darüber spricht. Just deshalb kann diese Frau laut darüber nachdenken, wie ihre Urne auszusehen hat. Rezas Stück ist auch «Eines langen Tages Reise in die Nacht» und ein «Memento mori».
Jedes der Anne-Marie-Beispiele für das glückliche Leben ist ein weiteres Exempel für das Resümee dieses Lebens: «Am Anfang gehörst du zu den kleinen Leuten, und am Ende wieder.» Daran änderte auch die einzige Affäre nichts, an die sie sich erinnert. Den Namen des Mannes verrät sie nicht, gibt aber zu, dass sie sich für jeden Liebesakt verkleiden, verwandeln musste in eine berühmte Fernsehansagerin der Sechzigerjahre – sie hieß Jacqueline Huet, also in eine wirkliche Schönheit. Von diesem Amant ließ sie sich demütigen. Auch das Ende dieser Beziehung steckte sie weg: «Mit den Männern ist es ja so, wissen Sie, Mademoiselle, äußere Schönheit ist in Ordnung, aber innere Schönheit nie. Ich sage das so ernst, weil es ernst ist.»
Warum mag man diese Frau? – Weil sie bis zur Selbstbestrafung ehrlich ist. Keine Masochistin sondern eine Wahrheitsfanatikerin: «Als ich meinen Mann kennenlernte, hatte ich alle Versuche aufgegeben, Glück in der Liebe zu finden, das geht sowieso immer schief.»
Glück in der Liebe zu finden – ein aussichtsloses Unterfangen für Frauen und Männer? Ist Anne-Marie die Schönheit ein Einzelfall oder nicht doch ein Mensch von vielen Scheiterern und Untergehern? Ist es ein weibliches Scheitern? Oder nicht vielmehr und überhaupt (!) ein menschliches? Yasmina Reza hat den Text für die Bühne dem Schauspieler André Marcon gewidmet – solche Widmungen kennen wir auch von Thomas Bernhard – «Minetti», «Ritter, Dene, Voss». Mit André Marcon hat sie schon oft zusammengearbeitet – er war unter anderem der Michel in Yasmina Rezas Pariser Inszenierung von «Gott des Gemetzels». Er spielte «Anne-Marie die Schönheit» auch in der Pariser Uraufführung, inszeniert von der Autorin schon im Jahr 2020. Yasmina Reza gab eine Erklärung, warum sie sich wünschte, dass die Frau von einem Schauspieler gespielt werden sollte: «Beim Schreiben von ‹Anne-Marie die Schönheit› dachte ich an den französischen Schauspieler André Marcon. Anne-Marie ist eine Frau, aber aus Gründen der Distanz und Allgemeingültigkeit wünsche ich, dass diese Figur von einem Mann interpretiert wird.»
Genau diese Allgemeingültigkeit wird erreicht durch die Uneindeutigkeit. Anne-Marie die Schönheit ist auch Anne-Marie der Schöne. Frau und Mann in einer Person. Ein Mensch fürchtet sich vor dem Tod, ist verlassen und einsam. Es ist kein Frauen- und kein Männerschicksal, das auf der Bühne verhandelt wird, sondern das Drama eines Menschen – männlich, weiblich, divers. Ein Menschheitsdrama. Im Theater ist es seit den mittelalterlichen Kirchenraum-Spielen gang und gäbe, dass Männer Frauen spielen – selbst die Christus-Mutter Maria wurde einst von einem Mönch gespielt. Auf der Shakespearebühne gaben sich Männer als Frauen aus, die sich wiederum verwandelten in Männer. Hamlet wurde im 20. und 21. Jahrhundert mehrfach von einer Frau gespielt. Das Theater war und ist weiter als es manche Theater-Bürokratinnen und -Bürokraten es sich vorstellen wollen.
«Für mich ist Schreiben eine Erforschung des Menschlichen, ein Erschließen des Unbekannten. Das Schreiben erlaubt mir, andere Leben zu leben.» Dieses andere Erleben, von dem Yasmina Reza spricht, wird nirgendwo so ermöglicht wie im Spiel, im Theater! Es zu reglementieren, ist der Tod des Theaters oder, um Botho Strauß zu paraphrasieren, das Theater ist der letzte Ort, die Angst uns auszutreiben. Bühne frei für Anne-Marie die Schönheit und Robert Dölle.
C. Bernd Sucher