DAS WUNDERBARSTE MÄRCHEN IST DAS LEBEN SELBST
DAS LEBEN VON HANS CHRISTIAN ANDERSEN
Das bildgewaltige Musiktheaterstück «Andersens Erzählungen» bringt eine schicksalhafte Nacht im Leben von Hans Christian Andersen auf die Bühne. Almut Wagner schreibt über die Biographie des großen dänischen Dichters.
Heute trennt Hans Christian Andersens Heimatstadt Odense auf der Insel Fünen und die dänische Hauptstadt Kopenhagen nur eine Bahnfahrt von einer guten Stunde – dank der Brücke über den Großen Belt. Zu Lebzeiten des Dichters (1805 bis 1875) hingegen lagen Welten zwischen beiden Städten. Und trotzdem war dem Jungen aus der Provinz, dem Schüler der Armenschule, schon früh klar, dass es ihn nach Kopenhagen ziehen würde. Bereits als Kind träumte er sich in andere Sphären, entwickelte eine lebhafte Fantasie, baute sich ein Puppentheater, schneiderte Kostüme, fertigte erste Scherenschnitte an. Der Vater, ein Schuhmacher, war ihm in diesem ernsthaft betriebenen Spiel ein wichtiger Partner, der starb als Hans Christian gerade elf Jahre alt war. Die Mutter schuftete als Wäscherin, wird Alkoholikerin. Der Sohn wurde früh gezwungen zu arbeiten und empfand dabei nur tiefes Unglück. Im Alter von 15 Jahren entfloh er der Enge von Odense, zu stark war seine Sehnsucht nach Bildung und gesellschaftlicher Anerkennung. Er sah sich als ein Bühnenstar – egal ob als Schauspieler, Tänzer oder Sänger.
Der strebsame junge Mann stellte sich in der Hauptstadt recht unerschrocken an vielen Stellen vor – und wurde erst einmal überall zurückgewiesen – bis er das Glück hat, Jonas Collin (1776 bis 1861) kennenzulernen, den Finanzdirektor des Königlichen Theaters. Dieser zeigte Mitleid mit dem dürren, hochgewachsenen, ungelenken Jungen und erkannte gleichzeitig sein besonderes Potential – sein originelles Wesen, sein unverkennbares Talent, das sich jedoch nicht für die Bühne eignete. Er ließ ihm Bildung zuteilwerden und vermittelte ihm Stipendien für die höhere Schule und die Universität – der Grundstein für Andersens Weltkarriere in der Literatur. Zudem verschaffte er ihm Zutritt zur höheren Gesellschaft und – ganz privat – in seine eigene Familie. Hans Christian Andersen fand in den Kindern von Jonas Collin, vor allem in der Tochter Louise und in dem Sohn Edvard, Freundin und Freund, mit beiden tauscht er über viele Jahre gefühlsbetonte Briefe aus. Sein ganzes Leben lang war Andersen verliebt, aber ob eine der Verliebtheiten auf Gegenliebe stieß, davon ist nichts bekannt. Er blieb bis zu seinem Tod alleinstehend.
Als Mittzwanziger erlebte Hans Christian Andersen erste Erfolge als Schriftsteller, schnell fand er in der literarischen Gattung des Märchens, das existentielle Fragen und autobiografische Motive behandelt, seine Berufung und wird diese bis an sein Lebensende vervollkommnen und zum gefeierten Star in der Welt der Literatur. Dabei umfasst sein OEuvre so viel mehr: Gedichte, Theaterstücke, Romane, Reiseberichte und Tausende von Scherenschnitte. Er war viel unterwegs – ganz besonders faszinieren ihn Deutschland und Italien. Auf diesen Reisen machte er gern Station bei Bekannten, wo er relativ ungeniert länger Aufenthalt nahm. In München war er zu Gast bei der Bayerischen Königsfamilie, beeindruckte nicht nur König Max, sondern auch den siebenjährigen Kronprinzen Ludwig –den späteren König Ludwig II – mit fantasievollen Geschichten von Schwänen und Störchen. Und auch ins Haus des Malers Wilhelm von Kaulbach wurde er häufig eingeladen. Dessen Tochter erinnert sich: «Nach Tische zog sich der Dichter mit uns Damen in den Salon zurück und bat um eine Schere und um einen großen Bogen Papier. Dabei erzählte er von seinem Leben, um dann unwillkürlich, wie es schien, den festen Boden des Daseins zu verlassen und ins Märchenland hinüberzuschweben, uns alle auf seinen ausgebreiteten Flügeln mit sich tragend. Und als er mit seiner Erzählung zu Ende war – oder endete er, wenn er mit seinem Papier fertig war? – breitete er vor uns einen ganzen Zug ausgeschnittener Ballettmädchen aus, die sich an den Händen hielten, die Füße in der Luft, und Andersen war selig über sein gelungenes Werk.» Andersen sah sich bis zu seinem Tod in Folge eines Krebsleidens immer als Dichter, der für Menschen jeden Alters schrieb und stets versuchte, das Wunderbare in die Wirklichkeit des Alltags zu übertragen. «Das wunderbarste Märchen ist das Leben selbst», schrieb er und seine Autobiografie trägt den Titel: «Das Märchen meines Lebens». Aus diesem Gedanken heraus erzählen Librettist Jan Dvořák, Komponist Jherek Bischoff und Regisseur und Bühnenbildner Philipp Stölzl in «Andersens Erzählungen» ihre Geschichte, die von der engen Verbindung zwischen der kleinen Meerjungfrau, Andersens bekanntester Märchenfigur, und der Persönlichkeit des Dichters handelt.
Almut Wagner
Das Programmheft zu «Andersens Erzählungen» ist erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als gekürzte Onlineversion zum Download hier.